Sie erinnert sich nicht an den Hund. Den Hund hat sie nie gesehen, nicht wirklich. Sie erinnert sich an das Bild des Hundes, an eine Schwarz-Weiß-Fotografie. Diese Fotografie hat sie gesehen, tatsächlich. Doch es ist lange her.
Der Hund war nicht klein und auch nicht groß, weder Dackel noch Schäferhund. Sie hat keine Ahnung von Hunderassen, Hunde waren nie ihre liebsten Tiere, doch bei diesem Hund auf der Schwarz-Weiß-Fotografie verspürte sie eine ungewohnte Sympathie. Er war nicht schön, der Hund, war nicht niedlich, war keinesfalls anmutig, ganz im Gegenteil. Er sah merkwürdig aus, eigentümlich, und er war asymmetrisch, denn ihm fehlte ein Bein.
Ein dreibeiniger Hund, lustig und traurig zugleich. Während sie sich an den Hund auf der Schwarz-Weiß-Fotografie erinnert, fragt sie sich, ob er vermisst, was ihm fehlt. Sie fragt nicht den Hund, denn sie weiß, dass sie seine Sprache nicht verstehen kann. Früher wollte sie mit Tieren sprechen können, wie Dr. Doolittle, wollte stets wissen, was sie fühlen und denken. Heute ist sie häufig nicht einmal sicher, was sie selbst fühlt und denkt.
Das Leben ist ein Konstrukt. Wie man Teile hinzufügt oder sie sich wie von selbst eingliedern, fallen andere Teile wieder weg, häufig unbewusst, manchmal unbeabsichtigt. Sie betastet ihren Körper, um zu prüfen, ob etwas fehlt. Sie hat ein Bein weniger als der Hund, der ein Bein weniger hatte als andere Hunde, doch das genügt ihr, sie kann stehen und gehen, kann laufen, könnte sogar tanzen, theoretisch. Trotzdem sind da diese Lücken im Konstrukt, da sind verlorene Teile, und sie weiß nicht mehr genau, wann und wie sie abhandengekommen sind. Sie hat das Abhandenkommen nicht gespürt, sie spürt nur das Fehlen.
Ein dreibeiniger Hund, lustig und traurig zugleich. Sie hatte damals Mitleid mit dem Hund auf der Schwarz-Weiß-Fotografie, hat noch immer Mitleid mit ihm, obwohl er ziemlich sicher nicht mehr lebt, schließlich reicht die Erinnerung weit in die Vergangenheit, die Schwarz-Weiß-Fotografie war schon damals alt und der Hund auf der Schwarz-Weiß-Fotografie folglich noch deutlich älter. In ihrem Mitleid sieht sie den Hund in Bewegung, wie er sich hinkend zurechtzufinden versucht in einer Welt, die für vierbeinige Hunde gemacht ist. Das unvermeidlich Tollpatschige in seinem Gebaren lässt sie lächeln, es sieht wirklich lustig aus, aber nicht lächerlich. Die Traurigkeit wohnt derweil in den Augen des Tieres, komprimiert und tief.
Erneut lässt sie ihre Hände prüfend über ihre Haut gleiten, nach Leerstellen suchend. Sie erwartet nicht, dass die Finger plötzlich in ein widersinniges Loch oder eine Spalte stolpern, da sind keine fehlenden Elemente im Körperkonstrukt, höchstens Krater und Narben. Dennoch wird sie das Gefühl nicht los, das sie auch beim Hund vermutet. Wie sie ihn sich hinkend vorwärtsbewegen sieht, ist sie sicher, dass er vermisst, was ihm fehlt.
Sie möchte den metaphorischen Hund berühren, möchte ihn halten, ganz nah am schlagenden Herzen, möchte ihn streicheln, am Kopf und an der Stelle, wo einst das vierte Bein war. Sie möchte in seine Augen sehen, möchte sich selbst darin erkennen. Vielleicht würde er mit dem Schwanz wedeln, der dreibeinige Hund. Es wäre ihr ein Trost.

Hm, der Satz, daß das Leben nur ein Konstrukt sei, scheint mir der zentrale hier zu sein. Inwieweit dieser mit der in deutschen Landen (ich gehe der Einfachheit halber davon aus, daß es sich bei der Person im vorliegenden Text aufgrund der Sprache desselben um eine Person aus jenen Landen handelt) weithin bekannten Tierliebe zu erklären oder durch sie zu ergänzen wäre, ist mir jedoch nicht ganz klar.
Insofern bleibt die Richtung, in welche der Text gehen bzw. „Trost“ (wie ihn die Person im vorliegenden Text sich zu erhoffen scheint) spenden will, eher dunkel für mich.
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Mit realer Tierliebe – oder realen Tieren – mag sich die Protagonistin wohl ebenfalls nicht auseinandersetzen wollen. Das Streicheln des Hundes könnte (vielleicht) das Annehmen von Fehlendem sein. Darin muss kein Trost zu finden sein – aber man könnte ihn womöglich dort suchen.
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte.
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Das wäre eine Möglichkeit, in der Tat. Viele Dank für Deine erklärenden Worte!
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Schau mal, was ich für dich habe. In diesem Restaurant in Görlitz war ein Klassentreffen. Viel mehr Erinnerungen habe ich schon nicht mehr daran – nur, dass es eine typische Altstadtlokalität war.

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Oh, wie schön! Vielen Dank dir!
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