Manchmal sieht sie ein einzelnes Mauerstück auf einer weiten Wiese, ganz für sich, ohne Anbindung, fern von jeglichen Bauten. Manchmal steht sie im Wald und betrachtet die Bäume, die allesamt aufrecht dastehen, nebeneinander aufgereiht wie brave Soldaten, nur ein Baum liegt darnieder, gefällt vom letzten Sturm. Manchmal sitzt sie allein auf ihrem blauen Sofa im Wohnzimmer, trinkt ein weiteres Glas Wein, raucht selbstgedrehte Zigaretten. Und in diesen Momenten, diesen kleinen Fetzen Zeit, stellt sie sich bisweilen die Frage nach dem Warum. Warum diese Quadratur der Welt, warum dieser Widersinn, warum diese Ecken und Kanten, an denen man sich stößt und die Haut aufreißt. Sie ist wohl nicht stärker überfordert als alle anderen, aber vielleicht hat sie mit dieser Überforderung heftiger zu hadern.
Warum baut jemand eine kleine Mauer auf eine Wiese? Auf der Wiese gibt es nichts, wogegen sich ein Schutzwall anböte, es gibt nichts, das einer Einfassung bedürfte. Wahrscheinlich war das Gebilde als Grenzmauer gedacht, sie kennt die Grundstückbesitzverhältnisse in dieser Gegend nicht, wie sie die Grundstückbesitzverhältnisse in keiner anderen Gegend kennt, doch selbst wenn die Mauer die Trennung von zwei Grundstücken symbolisieren sollte, wirkt sie dennoch deplatziert, wirkt unangebracht. Ein grober Eingriff, eine Verletzung der Reinheit, von Menschenhand verursacht. Sie berührt die kantigen Steine, spürt das kühle und harte Material, und wie es gegen ihre Haut drückt, glaubt sie sich im Unrecht, glaubt sich übergriffig. Die Mauer sollte hier nicht sein, doch auch sie sollte hier nicht sind, sie gehört hier nicht hin, ganz unabhängig von den Grundstückbesitzverhältnissen in dieser Gegend, sie ist so deplatziert wie die Mauer, also geht sie in den nahen Wald.
Warum ist genau dieser Baum gefallen? Er war nicht höher als die anderen Bäume, der Stamm nicht dünner, seine Position nicht exponierter. Womöglich war er krank, im Innern geschwächt, angegriffen von einem Pilz oder einem Schädling. Man sieht es den Bäumen nicht an, wenn sie innerlich verrotten. Man sieht es auch den Menschen nicht an, wenn sie innerlich verrotten, vor allem nicht, wenn die Rinde dick und starr ist. Irgendwann kommt der Sturm auf, durchdringt den Wald, rüttelt an den Wurzeln, und wenn der Wind sich gelegt hat, liegt einer da, ein Baum, ein Mensch, und die Leute fragen sich, warum er gefallen ist, warum ausgerechnet er und die anderen nicht. Sie berührt die grobe Rinde, spürt das zerfurchte und rissige Material, und wie es gegen ihre Haut drückt, glaubt sie sich im Unrecht, glaubt sich übergriffig. Der Ruf eines Vogels lässt sie zusammenzucken, als wäre sie ertappt worden. In ihrem Innern wuchert ein schlechtes Gewissen, ohne dass sie weiß, worin es wurzelt.
Warum sind da diese Risse und Furchen in ihrer Haut? Es ist ihre Hülle, die sich über all die gut 200 Knochen spannt, es ist ihr Schutz, ihre Rüstung, das größte Organ ihres Körpers, und offensichtlich ist es nicht intakt, nicht ganz gesund. Die Haut, sie ist nicht dort geschädigt, wo sie andere Oberflächen berührt hat, Mauern und Baumstämme und Metall und Asphalt und Plastik und Glas, sondern dort, wo sie mit nichts und niemandem Kontakt hatte, nur mit der Luft, mit Wasser, hin und wieder vielleicht mit weichen Textilien. Dennoch sind da diese Blessuren, und wenn sie nicht durch äußerliche Einwirkungen entstanden sind, ist die Ursache wohl in ihrem Innern zu suchen. Sie zündet sich die nächste Zigarette an, nimmt einen viel zu großen Schluck Wein und drückt das Glas gegen ihre Brust. Draußen rüttelt der Wind an Bäumen, Dachziegeln und Fensterläden, der nächste Sturm kündigt sich an. Ihr Fenster steht auf Kipp, und eigentlich müsste sie aufstehen, um es zu schließen. Doch sie bleibt sitzen und denkt an verwaiste Mauern auf weiten Wiesen und gefallene Bäume im Wald und wartet, bis der Wind sich wieder legt.

Wie war das doch gleich mit dem Menschen und Baumholz? Ach ja, siehe Immanuel Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“:
„Denn jeder derselben [Personen der Gesellschaft, Anm. AJ] wird immer seine Freiheit mißbrauchen, wenn er keinen über sich hat, der nach den Gesetzen über ihn Gewalt ausübt. Das höchste Oberhaupt soll aber gerecht für sich selbst und doch ein Mensch sein. Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter allen; ja ihre vollkommene Auflösung ist unmöglich: aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt.“
Und was das wuchernde schlechte Gewissen der Person im vorliegenden Text anlangt, so bemerkte Friedrich Nietzsche dereinst in seiner „Genealogie der Moral“ dazu:
„Man wird bereits errathen haben, w a s eigentlich mit dem Allen und u n t e r dem Allen geschehen ist: jener Wille zur Selbstpeinigung, jene zurückgetretene Grausamkeit des innerlich gemachten, in sich selbst zurückgescheuchten Thiermenschen, des zum Zweck der Zähmung in den ‚Staat‘ Eingesperrten, der das schlechte Gewissen erfunden hat, um sich wehe zu tun, nachdem der n a t ü r l i c h e r e Ausweg dieses Wehe-thun-wollens verstopft war, — dieser Mensch des schlechten Gewissens hat sich der religiösen Voraussetzungen bemächtigt, um seine Selbstmarterung bis zu ihrer schauerlichsten Härte und Schärfe zu treiben. Eine Schuld gegen G o t t: dieser Gedanke wird ihm zum Folterwerkzeug.“
Sollte nach dem Tod Gottes das schlechte Gewissen dahingehend gewuchert sein, daß der Mensch des schlechten Gewissens sein liebstes Folterwerzeug – vermißt? Es ist jedenfalls auffällig, daß die „Quadratur der Welt“ im vorliegenden Text offenbar durch keine göttliche Hand zu heilen ist …
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Bäume und Menschen haben viel gemeinsam, wie ein Blick hinter die Rinde und unter die Häute verrät. Ein Baum jedoch, wenn er aufgeschnitten wird, verrät dem Baumfachmann meistens, woran er starb oder was ihn schwächte oder ob seine Position einfach einer Windbö im Weg war. Doch ein aufgeschnittener Mensch verrät nicht unbedingt, woran er starb. Ob das Herz durch Kummer brach oder ob er einfach von innen verrottete, weil er sich zu lange schon wie tot fühlte, für die anderen unsichtbar, schließlich umkippte, Diagnose Herztod oder Schwäche oder akute Einsamkeit.
Wieder so eine schön starke Geschichte von Dir…
Lesedank und liebe Grüße
Amélie
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Ja, allzu viele hüllen ihre Innenwelt in undurchdringbar dicke Rinden, um tunlichst zu vermeiden, dass etwas davon nach draussen dringt… Vielen lieben Dank dir für deinen wie immer wunderbaren Kommentar!
Herzliche Grüsse zurück…
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