Ich habe genug, ruft er, und er tut es laut, mit einem metallischen, schneidenden Klang in der Stimme. Seine Botschaft durchbricht die träge Stille, die in den Räumen der Pflegestation liegt, hallt von den zumeist kahlen Wänden zurück. Kurz ist das Klappern von Geschirr zu hören, dann wieder der Ausruf. Ich habe genug!
Es ist Mittagszeit im Altersheim. Die Menschen, die ihr verbleibendes Leben hier auf der Station verbringen, sitzen an den Tischen, essen und trinken. Vereinzelte reden miteinander, aber hauptsächlich schweigen sie. Die Sprachlosigkeit, sie ist zugleich verbindend und trennend. Ich habe genug! Das lautstarke Kundtun müsste eigentlich irritieren, doch niemand wirkt irritiert.
Werner Huber hat genug! Er wechselt von der ersten zur dritten Person, sagt seinen Namen, womöglich, um gegenüber dem Rest der Welt klarzustellen, wer hier genug hat, doch vielleicht auch, um sich selbst zu vergewissern, dass er so heißt. Werner Huber hat genug! Manches gewinnt an Relevanz, wenn man ihm einen Namen gibt.
Er sitzt in einem Rollstuhl, und um sich fortzubewegen, benutzt er nicht seine Hände, sondern seine Füße, die er von den Fußstützen hebt und auf den Boden stellt. Mit winzigen Schritten bewegt er den Rollstuhl vorwärts. Werner Huber hat genug! Man hört ihn, bevor man ihn sieht, und wenn man ihn sieht, sieht man ihn sich ganz langsam von einem Ende des Blickfelds zum anderen bewegen. Seine Hände schlagen ihm auf den Kopf, aber nur ganz sanft.
Werner Huber hat genug! Von den anderen Menschen auf der Station drehen einige kurz den Kopf. Der Huber, sagt eine Frau und klingt dabei ehrlich entrüstet. Sonst sagt niemand etwas. Man kennt den Huber und seinen Überdruss offensichtlich. Eine andere Frau zuckt mit den Schultern und lächelt. Eine Pflegerin geht an Werner Huber vorüber und streichelt ihm kurz den Rücken. Das sieht schön aus, doch Werner Huber reagiert nicht darauf.
Irgendwann verschwindet Werner Huber aus dem Blickfeld, geht wahrscheinlich weiter durch die Gänge der Station, die den Menschen hier wohl eine Art von Zuhause bieten will, jedoch trotz sichtbaren Bemühungen nur eine sterile Imitation bleibt. Werner Huber hat genug! Seine Stimme klingt immer weiter entfernt, vermischt sich mit anderen Geräuschen, die zuvor nicht zu hören waren. Die leeren und halbvollen Teller werden abgeräumt, eine Pflegerin wischt die Tische mit einem Lappen sauber.
Werner Huber hat genug! Womöglich redet er wirklich über das Mittagessen. Vielleicht will er tatsächlich sein Sättigungsgefühl zum Ausdruck bringen. Vielleicht auch nicht. Jemand schaltet das Radio ein, heitere Schlagermusik ertönt. Das Leben ist so schön, singt ein Mann mit einer seltsam glucksenden Stimme. Werner Huber ist kaum mehr zu hören.

Ein toller Text! Die Stimmung ist hervorragend getroffen. Jetzt muss man sich nur noch vorstellen, dass sich dies tagein tagaus wiederholt… teilweise jahrelang 😅
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Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Beat! Ja, die mutmassliche Wiederholung macht die Szene nicht unbedingt leichter…
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Genug Essen, genug Jahre,
genug Menschen, genug Leben,
genug ‚Leid.
Ich kann ihn verstehen,
den Herrn Huber.
Fein geschrieben 🙂
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Ja, ich auch… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Die Alltagswirklichkeit in den Alten- und Pflegeheimen ist, finde ich, gut getroffen. Lediglich die Schlagerzeile am Ende ist in ihrer Plakativität vielleicht etwas zu aufdringlich …
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Vielen lieben Dank dir! (Die aufdringliche Plakativität der Schlagerzeile ist tatsächlich irritierend, doch angesichts ihrer Wurzel in realen Gegebenheiten mochte ich sie nicht weglassen oder ändern.)
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