Die anderen Mädchen waren die anderen Mädchen. Manche sahen sich sehr ähnlich, manche nicht, manche waren süß, manche nicht, aber eigentlich sahen die meisten Mädchen ganz normal aus, nur Gerda nicht. Gerda sah ganz anders aus. Mit ihren roten Zöpfen hätte sie eigentlich an Pippi Langstrumpf erinnern müssen, doch wenn man bei Gerdas Anblick an Pippi Langstrumpf dachte, dann nur, weil man bemerkte, dass sie trotz der roten Zöpfe überhaupt nicht wie Pippi Langstrumpf aussah. Gerda sah ganz anders aus. Ihre Strümpfe waren zwar bunt, aber nicht lang, auch ihre Beine waren nicht lang, ihre Arme ebenfalls nicht; nichts an Gerda war lang, nur die Zöpfe, die roten. Ansonsten war Gerda wohl das kürzeste Mädchen in der Schule, vielleicht das kürzeste Mädchen auf der ganzen Welt, zumindest damals, als die ganze Welt noch sehr klein war. Trotz ihrer Kürze mochte man Gerda. Sie hatte Sommersprossen im Gesicht, sogar im Winter, und wenn sie lachte, lachte sie auch mit den Augen. Wenn sie auf dem Fahrrad zur Schule fuhr, war dies ein bemerkenswertes Schauspiel, denn ihr Fahrrad war viel zu groß für ihren kurzen Körper, und entweder konnte sie auf dem Sattel sitzen oder in die Pedale treten, aber niemals beides gleichzeitig tun. Das Fahrrad passte nicht zu Gerda, und Gerda passte nicht zum Fahrrad, aber dennoch sah Gerda auf ihrem Fahrrad nicht unpassend oder gar falsch aus. Gerda sah ganz einfach anders aus, und das war gut so. Ähnlich wie mit dem Fahrrad verhielt es sich auch mit ihrem Nachnamen. Gerdas Nachname lautete Eisenmann, und irgendwie passte der Name überhaupt nicht. Ein Eisenmann war ein Mann aus Eisen, ein Roboter vielleicht, jedenfalls eine harte und irgendwie furchteinflößende Gestalt, groß und starr und kalt, doch Gerda war nichts davon. Gerda sah ganz anders aus. Auch ihre Stimme klang nicht nach einem Eisenmann. Sie war ziemlich tief, erstaunlich tief in Anbetracht ihres kleinen und kurzen Körpers. Da war immer etwas Warmes und Holziges in ihrer Stimme, selbst dann, wenn sie kicherte. Obwohl Gerda vor allem Dinge sagte, die Kinder sagen, klang sie dabei viel älter. Nicht alt, nicht erwachsen. Aber irgendwie reifer, erfahrener. Man mochte Gerdas Stimme sehr, hätte ihr gerne länger zugehört, doch irgendwann verstummte sie, denn die Familie Eisenmann zog in eine andere Stadt, und Gerda, ihre Zöpfe und ihr Fahrrad konnten nur noch in der Erinnerung bleiben.
Kürzlich zeigte man Gerda im Fernsehen. Man erkannte sie nicht sofort, sondern erst, als ihr Name eingeblendet wurde. Sie war in einer politischen Diskussionssendung als Expertin eingeladen und erklärte wichtige Dinge auf einleuchtende Weise, doch man konnte den Inhalt ihrer Sätze kaum greifen, zu sehr war man damit beschäftigt, im Gesicht nach der kleinen Gerda zu suchen. Die Sommersprossen waren ein wenig verblasst, aber das Lachen war noch da, und es reichte noch immer bis zu den Augen. Allerdings hatte sie in der Diskussionssendung nur wenig Grund zum Lachen, meistens schaute sie sehr ernst, und mit ihrem eleganten, perfekt passenden Kleid und ihrer strengen Frisur sah sie gar nicht mehr aus wie Gerda. Das war natürlich wenig überraschend, schließlich waren seit ihrer Kindheit Jahrzehnte vergangen. Doch es war nicht so, dass die Frau im Fernsehen älter oder alt aussah. Sie sah auch nicht merkwürdig aus. Sie sah einfach normal aus, vollkommen normal. Und das war irgendwie traurig. Denn Gerda tat das nie. Gerda sah ganz anders aus.

Schön, dass auch Doris es geschafft hat! Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
LikeLike
Bei der Gelegenheit wäre es interessant zu wissen, wie ehemalige Schulkameraden sich ansprechen, wenn einer von beiden Bundeskanzler oder ähnlich prominent ist.
LikeLike
Würdest du denn Doris noch Doris nennen, wenn sie Bundeskanzlerin wäre?
LikeLike
Das ist meine Frage, da Doris prominent ist und ich sie fast vierzig Jahre nicht gesehen habe. Ich habe keine Ahnung. Nicht, dass ich es will. Aber könnte ja sein …
LikeLike
Gibt es denn einen (guten) Grund, sie nicht mehr Doris zu nennen?
LikeLike
Dass man jemanden nach so langer Zeit nicht mehr kennt, wäre für mich ein Grund.
LikeLike
Kann sein, ja. Aber man könnte ja den Erinnerungen auf die Sprünge helfen und das Nichtmehrkennen wieder ausmerzen…
LikeLike
Könnte man, allerdings fände ich das umgekehrt ein bisschen anbiedernd.
LikeLike
Meine »Gerda« kommt auch regelmäßig im Fernsehen und heißt Doris. Nur, dass Doris von jeher nie groß auffiel, umso schöner, dass sie es jetzt in eine wichtige Position geschafft hat.
LikeGefällt 1 Person