Der Tag hängt stumm in den Räumen. Vor den Fenstern lässt der hellgraue Himmel die Landschaft matt und bleich wirken, wie eine altes Foto in ungesättigten Farben. Sie lauscht der Stille, fügt sich in das Schweigen, und als sie sich räuspert, zuckt sie erschrocken zusammen, so laut und grob dringt das Geräusch aus ihrer Kehle in das Zimmer. Sie senkt den Blick und starrt auf die blau verfärbte und geschwollene Stelle am Daumen ihrer linken Hand. Sie hat einen Nagel in die Wand schlagen wollen, ihn aber verfehlt. Sie fand ihr Missgeschick nicht sonderlich schlimm, doch ihr Körper mochte es ihr nicht verzeihen. Sie ist durchaus froh, dass er eine Reaktion zeigt, ganz einfach und nachvollziehbar. Allzu häufig versteht sie ihn nicht. Ihr Körper, dieser Behälter für ihr Ich, er ist nicht immer ein Zuhause. Sie nimmt den Daumen in den Mund, lässt ihre Zunge über die geschwollene Stelle gleiten. Nachdem sie den Daumen wieder aus dem Mund genommen hat, bläst sie vorsichtig auf die feuchte Haut, bis sie sich kühl anfühlt. Sie schließt die Augen und stellt sich vor, wie es wäre, einfach abzutauchen.
Es ist warm, das Wasser, die Temperatur ist seltsam vertraut, ganz natürlich. Natürlich weiß sie nicht mehr, wie es damals war, im Bauch der Mutter, und dennoch ist sie überzeugt, dass ihre Erinnerung an dieses Gefühl so weit zurückreicht, bis zu den Ursprüngen ihres Seins. Sie ist überrascht von der Wärme und Behaglichkeit, die das Wasser in ihr auslöst. Seit die Mutter nicht mehr da ist, sind derartige Empfindungen zunehmend rar geworden. Sie ist nicht sicher, ob die Simultanität nicht bloß ein Zufall war, aber mit dem Fehlen der Mutter begann auch ihr Körper, sich immer mehr von ihr zu entfernen, bis das Bild im Spiegel eine fremde Person zeigte. Darum waren da wohl auch keine wirklichen Schmerzen, als der Hammer auf den Daumen prallte.
Sie verspürt ein leichtes Ziehen im Bauch, direkt am Nabel. Sie taucht weiter, gleitet mühelos hinab in die Tiefe, und obwohl der Druck eigentlich steigen müsste, fühlt sie sich mit jedem Meter leichter und sicherer. Auch das Licht scheint trotz der Tiefe nicht zu schwinden, im Gegenteil, die Welt unter Wasser wird heller, beinahe leuchtend. Ihr Körper drängt immer weiter, gezogen von einer unsichtbaren Kraft, doch dem Zerren am Nabel wohnt keinerlei kein Zwang inne. Irgendwann lässt es nach, das Ziehen, und schließlich hört es auf. Während ihr Körper allmählich zum Stillstand kommt, glaubt sei ein leises Pochen zu hören, dumpf und regelmäßig, wie ein Herzschlag. Ihr Tauchen gleicht einem Schweben, und sie verharrt, vollkommen ruhig und gelassen im warmen Wasser.
Und ja, sie wird auftauchen müssen, irgendwann. Weil das Telefon klingelt. Weil die Katze gefüttert werden will. Weil jemand die Pflanzen gießen muss. Weil sie tun muss, was man nicht lassen darf. Weil ein Nagel in die Wand geschlagen werden muss. Doch bis dahin bleibt sie noch ein wenig hier, im Wasser.

…und an manchen Tagen hängt Sonne aufgespannt in vier Wänden und die Pupille ist noch trüb, zerkratzt von der Nacht, der Fremdkörper fühlt sich wie im Auge und es tränt, es juckt und die Sonne blendet obendrein auch noch. Dann die Linsenpoliturtube suchen, andächtig auf den Knien rumrutschen, das Zeug dann endlich in einer Sofaritze ertasten, denn wo Sehen unmöglich ist, muss ja Tasten erlaubt sein und es ist ein Zauberzeuchs, es poliert wie von innen, denn es hat Worte, die einem selbst grad irgendwie unter den Tisch abgepfiffen sind – und jemand anderer; der hat dieWorte, die kratzen die Kratzer aus der Linse, die Sonne scheint nicht mehr aber Regen sehen und überhaupt wieder sehen und lesen können, aus Sonne und Regen eine tragfähige Stimmung basteln können, das tut dann auch immer wieder so saugut…:-)
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…und manchmal schreibt man einen Text, und dann schreibt noch jemand einen Text und stellt ihn dazu, und dann entsteht daraus dann nicht nur die Summe von einzelnen Teilen, sondern deren Potenzierung; jedenfalls was Schönes, das, ja, saugut tut… Danke dafür und herzliche Grüsse!
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