Vera schraubt die Kappe des Lippenstifts ab, führt ihn an ihren Mund, trägt ihn auf, achtsam, sparsam, nicht zu viel, nicht zu wenig, mit größter Akkuratesse. Das richtige Maß ist wichtig, das richtige Maß ist entscheidend, das ist bei allen Dingen so. Sie schürzt die Lippen und schaut in den Spiegel. Die Frisur sitzt perfekt, ihr Make-up betont ihre Gesichtszüge, ohne sich aufzudrängen. Sie betrachtet ihren Hals, ihren Oberkörper, ihre Brüste, sie prüft, ob etwas stört, doch da ist nichts, das stört, und Vera nickt zufrieden. Sie nimmt ein Parfum aus dem Schrank, drückt auf den Zerstäuber, dreimal, denn zweimal ist zu wenig und viermal ist zu viel. Das richtige Maß ist wichtig, das richtige Maß ist entscheidend, das ist bei allen Dingen so.
Sie läuft, oder nein, es ist nicht nur ein Laufen, sie rennt, sie rast, sie stürmt, barfuß und nackt, sie jagt über Wiesen und Felder, hinein in einen Wald, der Boden ist weich unter ihren Füssen, nur hin und wieder tritt sie auf eine Wurzel und zuckt kurz zusammen. Sträucher und Zweige prallen gegen ihre blanken Körper, Dornen und Widerhaken zerren an ihrer Haut, doch sie rennt unvermindert weiter, immer tiefer hinein in den Wald, und die Welt, die Welt wird immer stiller, und ihr Herz, ihr Herz schlägt immer lauter.
Vera fährt um sieben Uhr los, nicht zu früh, nicht zu spät, sondern absolut pünktlich. Sie hält stets die korrekte Geschwindigkeit ein, blickt bei jedem Abbiegen prüfend über ihre Schulter, um den toten Winkel unter Kontrolle zu haben, denn dort, im toten Winkel, lauert das Unberechenbare. Im Büro grüßt sie jede Person, die ihr begegnet, freundlich, aber nicht zu freundlich, und wenn einer der Arbeitskollegen in der Mittagspause zu ihr hinschaut und sie anlächelt, schaut und lächelt sie zurück, nicht zu kurz, nicht zu lang. Das richtige Maß ist wichtig, das richtige Maß ist entscheidend, das ist bei allen Dingen so.
Sie sieht sich von außen, wie sie tanzt, mit geschlossenen Augen und einem entspannten Lächeln auf den Lippen, ihr Körper zuckt und fügt sich nahezu organisch in den Bass und die Rhythmen. In den flackernden Lichtern sieht sie aus wie ein wildes Tier, hungrig nach Leben und Bewegung. Neben ihr und um sie herum stehen Leute, sie schauen, sie starren, zum Teil mit offenen Mündern, doch niemand wagt es, sich ihr anzunähern, zu ungestüm und ungezähmt ist ihr Tanz, zu entrückt, zu weit von ihnen entfernt ist sie, und während die Musik zu einem tobenden Dröhnen wird, tanzt sie weiter.
Vera legt eine Packung Nudeln in den Einkaufskorb, doch einige Schritte weiter entdeckt sie, dass die gleichen Nudeln als Doppelpack im Angebot sind, also nimmt sie die einzelne Packung wieder aus dem Korb, stellt sie zurück ins Regal und greift zum Doppelpack, und für einen kurzen Moment ist sie unsicher, ob das, was sie tut, richtig ist. Sie sieht eine ältere und sehr kleine Frau, die eine Likörflasche anschaut, die ganz zuoberst im Regal steht, viel zu weit oben, um sie erreichen zu können, und Vera tritt zu ihr hin und fragt, ob sie helfen könne, und dabei lächelt sie, nicht zu stark, aber dennoch wahrnehmbar. Das richtige Maß ist wichtig, das richtige Maß ist entscheidend, das ist bei allen Dingen so.
Sie liegt auf einer Matratze. Es ist nicht ihr Bett, nicht ihr Zimmer, es ist dunkel, aber nicht finster. Vor ihr steht eine Frau, und schon bevor Vera die Zähne sieht, ist sie sicher, dass es sich um eine Vampirin handelt. Ihre Haut ist weiß, die Augen sind nahezu schwarz, und als die Vampirin grinst, treten die Eckzähne über die blutroten Lippen. Vera zieht ihr Oberteil aus und streift ihre Unterhose ab, und während sie sich wieder ruhig auf den Rücken legt, kniet sich die Vampirin hin, und wenige Sekunden später senkt sie ihren Kopf zwischen Veras Beine, ganz langsam. Ihre Hände berühren Veras Schenkel, und sie zuckt kurz zusammen, weil die Finger so kalt sind, doch es stört sie nicht. Sie will die Zunge der Vampirin spüren und hat keine Angst vor den spitzen Zähnen. Sie will nicht ewig leben, aber sie will jetzt leben, in diesem Moment.
Vera stellt einen Topf mit Wasser auf den Herd und schaltet ihn ein, dann schüttet sie einige Nudeln in die Schale ihrer Küchenwaage, so lange, bis es genau neunzig Gramm sind, kein Gramm mehr und keines weniger. Das richtige Maß ist wichtig, das richtige Maß ist entscheidend, das ist bei allen Dingen so. Später steht sie in ihrem Badezimmer, schminkt sich ab und steigt unter die Dusche. Sie dreht das Wasser auf und regelt die Temperatur. Es soll nicht zu heiß und nicht zu kalt sein. Das richtige Maß ist wichtig, das richtige Maß ist entscheidend, das ist bei allen Dingen so. Während sie duscht, fragt sich Vera, wie viele Liter sie in fünf Minuten verbraucht und ob das Wasser, das aus der Brause strömt, wohl die gleiche Temperatur hat wie das Wasser, das aus ihren Augen dringt. Es sind eigentlich unwichtige Fragen, sie sind kaum von Interesse, doch selbst später, als sich Vera längst abgetrocknet hat, ist sie verärgert, dass sie die Antworten auf die Fragen nicht kennt.

Facetten eines Doppellebens oder Traum und Realität. Spannend!
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte! Freut mich sehr…
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Was für eine Reise, auf die du uns Leser mal wieder mitgenommen hast. Vielen Dank für die Einblicke. Es rattert jetzt ordentlich in meinem Kopf.
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Vielen lieben Dank, dass du die Reise mitgegangen bist, lieber Ben! Herzliche Grüsse…
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Beeindruckend … faszinierend geschrieben. Inklusive Sexvision mit Vampirin.
Herzliche Grüße vom Finbar
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Vielen lieben Dank dir, lieber Finbar! Mit vampirischen Sexvisionen lassen sich so manche Geschichten aufwerten 😉
Herzliche Grüsse zurück!
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Schmunzel … in der Tat! 😆
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