Die Konturen der fernen Landschaft sind unverändert, die Zeit hat höchstens einige Dellen hinterlassen. Aber schon am Rand der kleinen Stadt ist nahezu nichts mehr so wie früher, die Erinnerungen scheinen Trugbilder zu sein, die charmanten Holzhäuser mussten grauen Klötzen weichen. Sie fährt ihren kleinen Fiat an den Straßenrand und steigt aus, legt die Unterarme auf die offene Wagentür und blickt auf die schroffen Formen. In einem der Häuser, die hier einst standen, hatte sie zum ersten Mal einen Jungen geküsst. Sie ist nicht mehr sicher, wie er hieß, aber sie weiß noch, dass in seinem Zimmer ein Poster von Falco an der Wand hing; sie sieht es vor sich, dunkelblau und schwarz und schön. Sie meint, den Geschmack von Kaugummi zu bemerken, doch ihr Mund ist leer und trocken.
Sie steigt wieder ein und fährt weiter, vorbei an gewaltigen Industriebauten und verwitterten Fassaden, hinter denen sich kein Leben zu regen scheint. Der Himmel liegt in einem fahlen und humorlosen Hellblau über der Stadt, als wäre der Tag ein vergilbtes Foto in einem alten Jahrbuch. Als sie ihre frühere Schule entdeckt, hält sie erneut an, steigt aus und geht zum Eingang, klammert sich mit einer Hand am gusseisernen Tor fest. Eine kleine Tafel weist darauf hin, dass dies einst eine Schule war, nun aber neuen Nutzungszwecken offensteht. Die Schrauben haben Rost angesetzt. Sie glaubt, ein Geräusch zu hören, ein Klappern im Innern des Gebäudes. Es klingt wie die Absätze der Holzpantoffeln von Herrn Frei, ihrem damaligen Lehrer. Dann ist wieder alles still, die Absätze sind verstummt, und sie weiß eigentlich genau, dass Herr Frei längst tot ist; er war schon damals kaum mehr am Leben.
Wieder im Fiat, fährt sie weiter durch die Straßen der Vorstadt, biegt links ab, biegt rechts ab. Die Manöver sind nicht notwendig; die Umwege sind ein stetiges Ausweichen, ein Vermeiden von Annäherung. Ihr ist klar, dass dies nicht ewig so weitergehen kann.
Sie ist hier, in der Stadt ihrer Kindheit, in den Breitengraden ihrer Jugend. Sie ist hier, mit einem Kind unter dem Herzen, von einem Mann, der in diesem Herzen keinen Platz hat. Die Mutter, zu der sie unterwegs ist, weiß davon nichts. Sie überlegt, ob es nach so vielen Jahren überhaupt noch eine Rolle spielt, wer damals was gesagt hat, wer den Kontakt abgebrochen hat und warum.
Der Fiat schleicht über die staubigen Straßen; der Motor ein blechernes Knurren, das bizarr anmutet im Schweigen dieses grauen Stadtviertels. Sie blickt sich um, ihre Augen sehnen sich nach menschlichem Leben, doch keines der plumpen Betonklötze lässt Bewohner erahnen. In manchen Fenstern hängen Überreste von Vorhängen, irgendwo hat es gebrannt, und jede weitere Straße ist so karg und traurig wie die letzte und die nächste. Die Befürchtung keimt in ihrem Hals und wird zur Gewissheit, als sie einen Straßennamen liest und weiß, dass sie eigentlich am Ziel ist, am Ziel wäre. Nein, hier wohnt niemand mehr, schon gar nicht die Mutter. Die Häuser hocken stumm zwischen den Halmen, als hätte sie jemand verloren und vergessen.
Als sie die Tür zuknallt, wackelt der Fiat. Sie nähert sich dem mächtigen Wohnblock, in welchen die Mutter vor viel zu vielen Jahren gezogen ist. Der Vater war damals längst tot, die beiden Töchter waren ausgezogen, Haus und Garten zu groß geworden. In der Enge tut das Alleinsein weniger weh, hatte die Mutter zu ihr gesagt. Sie selbst war nur einmal hier, kurz vor ihrem Verschwinden. Danach lösten sich die Stränge der Nabelschnur, fransten aus, und als sie zu zerreißen drohten, schaute sie nicht mehr hin. Jetzt steht sie vor dem kahlen Betonkörper und versucht zu eruieren, aus welchem der leeren Fenster die Mutter in die Welt zu starren pflegte.
Warum sie überhaupt hierher gekommen ist, weiß sie nicht genau. Sie könnte versuchen, es zu erklären, würde aber wohl ihren eigenen Worten misstrauen. Das war dumm, flüstert sie wütend in das Schweigen der Stadt. Und lässt offen, was sie damit meint.
Später sitzt sie wieder im Auto. Der Fiat will nicht anspringen. Immer wieder dreht sie den Zündschlüssel, doch mehr als das heisere Stottern vermag sie nicht zu entlocken. Ihre Gedanken taumeln zwischen der Frage, wo die Mutter ist, und der Frage, ob und wann sie gefunden wird, hier in der vergessenen Peripherie. Der Motor startet weiterhin nicht. Schließlich gibt sie auf, verprügelt das Lenkrad, brüllt gegen die Stille an. Und wartet darauf, dass irgendetwas geschieht.

Sich nahe an die Realität einer Erinnerung zu wagen, kann wehtun…
Je näher, desto weher!
Liebe Junigrüße
vom Finbar
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Jaha, ist wohl so. Vielleicht treibt es manche deshalb so weit weg von ihrer Vergangenheit…
Vielen lieben Dank dir und herzliche Grüsse zurück
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Das halte ich sehr gut für möglich, lieber Disputnik…
Save your Day,
Finbar
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So verloren und aussichtslos, dass es zunehmend schmerzt…
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Ich hoffe, die Schmerzen gehen wieder vorüber… Vielen herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte.
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Sehr gern.
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