Ein Fensterladen hängt schief in den Angeln. Das ist nicht neu, das ist schon seit Jahren so, und eigentlich müsste man ihn reparieren, vielleicht sogar ersetzen, aber sie tun es nicht. Ach, das lohnt sich gar nicht mehr, sagen sie, falls sie überhaupt etwas sagen und nicht nur mit den alten Schultern zucken.
Sie, das sind sie und ihr Mann oder er und seine Frau, je nach Blickwinkel. Sie wohnen in einem jener pittoresken kleinen Häuschen am Rande des Städtchens, und wenn die Spaziergänger und Wanderer vorbeikommen, bleiben sie manchmal stehen und schauen neugierig, sagen Dinge wie Ach, wie hübsch! und So charmant! und Wie im Bilderbuch! und Wer hier wohl wohnt? Manche sagen auch gar nichts und legen nur ganz verträumt den Kopf ein wenig schräg, bevor sie weitergehen.
Früher waren die beiden oftmals draußen vor ihrem Häuschen anzutreffen, saßen auf ihren weißen Plastikstühlen im Schatten der großen Eiche. Manchmal redeten sie miteinander, noch häufiger aber unterhielten sie sich mit den Spaziergängern und Wanderern, erzählten vom Gewitter der letzten Nacht oder vom toten Fuchs am Waldrand oder davon, wie die pelzige Katze mal wieder eine Maus auf der Schwelle abgelegt hatte.
Heute sieht man sie fast nie mehr vor ihrem Häuschen sitzen. Sie bleiben lieber drinnen, in einem der kleinen und dunklen Zimmer, irgendwo hinter den winzigen Fenstern. Sie hockt meistens in der kleinen Küche im Erdgeschoss und schaut durch die trübe Scheibe nach draußen. Er hockt meistens in der kleinen Kammer in der zweiten Etage und schaut durch die trübe Scheibe nach draußen. Sie mögen den Leuten nicht mehr erzählen, weder von den Gewittern noch von den Füchsen. Und schon gar nicht vom Wolf.
Der Wolf hatte sie viele Male heimgesucht, immer wieder, in manchen Jahren mehrmals, in manchen Jahren gar nicht. Bisweilen hatte der Wolf ihren Mann angegriffen, hatte ihm seine Zähne tief ins träge Fleisch gebohrt. Dann wieder hatte sich der Wolf auf seine Frau gestürzt und ihr mit seinen scharfen Krallen das Gesicht zerkratzt. Sie wehrten sich, mitunter heftig, dann nur mit halbem Herzen, sie ertrugen die Attacken und Verletzungen, strichen Salbe auf Wunden und Narben. Hin und wieder weinte die Frau in der Küche, hin und wieder schlug der Mann mit der Faust an den Türrahmen.
Irgendwann blieb der Wolf dem kleinen Häuschen zwar fern, doch er ist weiterhin da draußen, das wissen sie, er lauert im dunkelfeuchten Wald und beobachtet sie unaufhörlich mit seinen blutrotschwarzen Augen. Manchmal vernehmen sie sein Knurren, doch mit dem Alter lässt zum Glück das Hörvermögen nach.
Manchmal zieht in der Nacht ein Gewitter übers Land. Manchmal liegt ein weiterer toter Fuchs am Waldrand. Manchmal schläft die alte Katze auf einem der beiden weißen Plastikstühle im Schatten der Eiche. Meistens aber sind die Stühle leer. Und wenn die Spaziergänger und Wanderer vorbeikommen, bleiben sie vielleicht kurz stehen und schauen, sagen Dinge wie Wer da wohl wohnt? und Das wuchernde Gras, schau, so wild und romantisch! Häufig sagen sie gar nichts und schütteln lediglich den Kopf. Dann gehen sie weiter.

Eine Art Fabel, würde ich sagen, lieber Disputnik,
auf jeden Fall fabelhaft geschrieben…
Das Verhältnis der im Häuschen wohnenden Leute und der Passers-by ist ja köstlich charakterisiert,
mit dem imaginären Wolf als Katalysator…
Hab einen schönen Tag!
Liebe Junigrüße vom Finbar
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Herzlichen Dank dir, mein lieber Schreibfreund, freut mich fabelhaft, dass dir der Text zusagt…
Dir ebenfalls einen schönen Resttag. Und herzliche Grüsse…
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und so vergingen die Jahre, die Zeit ging ins Land und aus dem verträumten Häuschen
schaut keiner mehr raus, nur die Mär vom blutrünstigen Wolf,
die hielt sich frisch wie am ersten Tag…
Lieber Gruß von Bruni
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Ob Mär oder nicht (der Wolf wird im geschriebenen Wort wohl allzu häufig sinnbildhaft geschunden), die Zeit nagt wohl manchmal nicht nur an Häusern und Fensterläden…
Herzliche Grüsse zurück, liebe Bruni…
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