Ihre Finger gleiten über die weiche Oberfläche, schiebend und drückend, tastend und streichelnd. Sie fertigt kleine Figuren aus schwarzer Knetmasse, schmale, feingliedrige, geschlechtslose Wesen, mit ähnlichen Proportionen und minimalen Unterschieden in Körperhaltung und Ausdruck. Sie stellt die Figuren auf ein langes Regalbrett an der Wand, eine neben die andere; eine schweigende Prozession der Gesichtslosen, eine Gesellschaft der Andersartigkeiten.
Always look on the bright side of life. Sie weiß nicht, warum der Song von Monty Python unvermittelt in ihr klingt und weshalb sie die Schlussszene aus dem Film The Life of Brian vor dem inneren Auge sieht. Wie erkennt man die helle Seite, wenn es überall dunkel ist?
Sie knetet eine weitere Figur in Form, zieht die Arme und Beine lang, dehnt den Oberkörper, den Kopf. Sie erschafft ein Wesen, kreiert es, fügt es in ein Dasein. Es bräuchte nur einen Funken, eine Art von Beseelung, und die Figuren könnten zum Leben erwachen, könnten die kalte Starre ablegen, könnten die Glieder schütteln, die Köpfe wenden. Es entstünde eine vitale Szenerie auf dem Regalbrett, die kleinen Wesen würden sich gegenseitig entdecken, zweifellos mit einer anfänglichen Zurückhaltung, mit Skepsis vielleicht. Der Zauber des Anfangs, er wäre greifbar, und sie würde ihn vorsichtig festhalten wollen, wissend, dass er zart flüchtig ist.
Always look on the bright side of life. Diese Leichtigkeit würde vieles vereinfachen, womöglich alles. Diese schulterzuckende Nonchalance, sie würde das Kreuz vom Rücken nehmen, selbst wenn man daran festgenagelt wäre. Sie fragt sich, ob es die helle Seite für sie nur im Konjunktiv gibt.
Die Wesen, die sie geschaffen hätte, sie würden sich aus der Enge des Regalbrettes lösen, würden hinunterklettern und sich ausbreiten, würden die Welt entdecken. Jeder Raum wäre eine Entdeckung, jeder Tag ein neues Abenteuer, jeder Wetterumschwung eine Erfahrung, jede Begegnung ein Erlebnis. Sie beneidet die kleinen Wesen, ohne genau zu wissen, worauf der Neid abzielt. Auf das Neue? Die ungeahnten Möglichkeiten? Die Freiheit? Wie würde sie sich fühlen, wenn sie an der Stelle einer der kleinen Figuren wäre?
Always look on the bright side of life. Sie lacht gerne, und bei Monty Python lacht sie eigentlich immer. Doch beim Gedanken daran, ihre Gesichtsmuskeln zu einem Lachen oder auch nur zu einem Lächeln zu bewegen, fühlt sie sich wie eine schlecht vorbereitete Schauspielschülerin.
Sie versucht, für die kleine Figur, deren Platz sie einnehmen würde, ein Leben zu skizzieren. Welchen Ort würde sie sich zur Heimat machen? Wonach würde sie streben, wonach sich sehnen? Wen würde sie lieben, und wie würde sie lieben, mit welcher Intensität? Was würde sie anfangen mit der gigantischen Größe der Welt, die sich ihr eröffnen würde? Wem würde sie sich anvertrauen, und wie würde sie auf Verletzungen reagieren? Wovor hätte sie Angst, und würde sie die Ängste bewältigen können? Die Fragen tauchen auf wie hungrige Tauben in der Stadt, doch sie hat keine Antworten, keine Brotkrumen, die sie den Tauben hinwerfen könnte. Also stehen sie dumm herum, die Tauben, die Fragen, vorwurfsvoll und entmutigt und leise gurrend.
Always look on the bright side of life. Immer wieder hat sie versucht, sich umzusehen, hat nach Orientierung gestrebt, nach Halt im Gefüge, nach einem Schimmer, einem schwachen Leuchten in der Ferne vielleicht; doch ohne Erfolg. Womöglich schaut sie nicht richtig, denkt sie, doch sie traut sich kein anderes Schauen zu. Sie blinzelt ein wenig, dann schließt sie die Augen.
Der Neid auf die Figuren ist einer angespannten Missgunst gewichen, einer dräuenden Wut. Die Vorstellung, dass die kleinen Wesen in der Lage sein könnten, sich einen Weg durch das Dickicht des Lebens zu bahnen, hin zur hellen Seite, erfüllt sie mit Unbehagen und Zorn. Vor allem aber glaubt sie sich verhöhnt und hintergangen, fühlt sich erniedrigt, verletzt. Als sie die Augenlider wieder auseinanderschiebt, sieht sie die schwarzen Figuren wieder auf dem Regalbrett stehen, eine neben der anderen, wie zuvor; reglos, leblos, stumm. Sie zögert nur eine Sekunde, dann holt sie mit dem Arm aus und lässt ihn über das Regalbrett fahren, löst die Versammlung der kleinen Wesen auf, mit einem Krachen und einem grollenden Schrei.
Always look on the bright side of life. Sie schaut und schaut, sie zündet alle Kerzen an, schaltet alle Lichter ein, doch es wird nicht heller im Raum. Auf dem Boden liegen die Gestalten aus Knetmasse, weit auseinander, sinnlos zerstreut. Sie könnten jetzt aufstehen, die kleinen Wesen, könnten loslaufen, könnten die Welt entdecken und den Duft jedes neuen Tages einatmen. Doch sie rühren sich nicht von der Stelle. Sie schaut auf ihre Hände, lässt die Finger sich krümmen, bis zwei kümmerliche Fäuste entstehen. Dann legt sie sich hin, auf den Boden, neben die Figuren. Bettet den Kopf auf den Arm. Liegt ganz still neben den Figuren. Und wird eine von ihnen.

Hm, wie Don Esperanza schon sagte, finde auch ich diese Vignette recht eindrücklich, allerdings bin ich mir nicht sicher, diese Kritik sei mir verziehen, ob der Schlußsatz wirklich so glücklich ist. Er scheint mir doch mehr auszusagen bzw. anzudeuten, als im zuvor Erzählten angelegt ist, weshalb mir im Übergang zum Schlußsatz ein unangenehmer Sprung zu liegen scheint. Auch stilistisch springt der Schluß mit seinen abgesetzetn Teilsätzen sozusagen aus dem vorherigen erzählerischen Rahmen, ohne daß der Grund dafür wirklich ersichtlich würde, finde ich.
Wie dem auch sei, die Eindrücklichkeit all dessen davor bleibt davon unberührt erhalten!
LikeGefällt 1 Person
Die Kritik sei dir natürlich verziehen, mehr noch, sie ist wertvoll; vielen Dank dir. Der Schluss wirkt wohl tatsächlich ein wenig disharmonisch… Umso schöner, dass die Eindrücklichkeit bleibt. Nochmals lieben Dank dir…
LikeGefällt 1 Person
Gefangen. Sie tun mir leid und berühren mich, die kleinen Figuren und ihre Schöpferin. Der Konjunktiv ist meist kein Freund. Und der Weg zum Licht eine Sache der Beharrlichkeit und Geduld, für Nachtschattennaturen. Wie ich das kenne. Aber wollen muss man, dann kommt man ans Licht, immer wieder, mit zahllosen dunklen Phasen dazwischen.
Vielleicht ist ja doch alles beseelt, belebtes und unbelebtes, #Traumzeit 🙂
Danke für die bewegende Geschichte, lieber Disputnik, und sei ❤lich gegrüßt 👋
LikeGefällt 1 Person
Ja, Geduld und Wille sind wohl unverzichtbare Gepäckstücke auf dem Weg, bei dem man kaum die schnellste Route nehmen kann… Schön, dass dich Figuren und Schöpferin berühren, das freut mich sehr. Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und liebe Grüsse zurück…
LikeGefällt 1 Person
Puh, sehr eindrücklich
LikeGefällt 1 Person
Vielen lieben Dank!
LikeLike
Gerne
LikeLike