Die Frau, die vor dem Milchregal steht, schaut missmutig zu ihm hin. Nein, sie schaut misstrauisch, geringschätzig gar, findet er. Manche Menschen tragen ihre Verachtung wie eine Trophäe im Gesicht, ihre Herablassung ist ihnen hold, als wäre sie eine Qualität, die es zu hegen gelte. Nicht so diese Frau, die mit ihrer schmalen Statur und ihren offensichtlich gefärbten Locken eher an das klischierte Bild einer alten Jungfer gemahnt, weltfremd, zurückhaltend, in sich gekehrt. Doch der Blick, den sie ihm zuwirft, ist zum Bersten gefüllt mit unverhohlener Verachtung, beinahe so, als hätte sie sich alle Animositäten aufgespart für diesen Moment, in welchem sie ihm im Supermarkt begegnet.
Früher gab es im Laden zwei Sorten Milch, vielleicht drei. Heute reihen sich auf den Regalen unzählige verschiedene Verpackungen aneinander. Vollmilch, teilentrahmte Milch, Magermilch, laktosefreie Milch, Milch mit Kalziumzusatz, Milch mit Vitaminzusatz, Milch mit besonders hohem Proteingehalt, pasteurisierte Milch, lang haltbare Milch, extra lang haltbare Milch, dann noch die Alternativen zu Kuhmilch wie Hafermilch, Mandelmilch, Sojamilch, Weizenmilch, Hanfmilch, Reismilch, Lupinenmilch. Lupinenmilch! Er könnte verstehen, wenn die Frau beim Anblick von Lupinenmilch mit Verachtung reagieren würde, doch die Lupinenmilch ist offensichtlich nicht ihr Problem. Er ist ihr Problem. Ihr Blick gilt einzig und allein ihm.
Zwischen ihr und ihm liegen einige Meter. Er hat sich in der Nähe der exotischen Früchte verirrt und steht nur ein wenig ratlos da, doch seine Ratlosigkeit und sein Dastehen dürften ihr kaum Anlass zur Verachtung geben. Er versucht, sie zu mustern, ohne sie diese Musterung bemerken zu lassen. Er hebt eine Ananas hoch und dreht sie mit gespieltem Interesse in seinen Händen, während sich seine Augen in die Winkel schieben und zur Frau beim Milchregal spähen.
Sie ist wohl etwa gleich alt wie er, vielleicht ein paar Jähre älter. Er kann sich nicht daran erinnern, sie jemals zuvor gesehen zu haben, doch es wäre zumindest denkbar, dass sie in ihrem mutmaßlich verkrusteten Erinnerungsstübchen auf eine alte und verstaubte Impression von ihm gestoßen ist. Vielleicht hat sie mitbekommen, dass er eine der Angestellten des Supermarkts zurechtgewiesen hat, denn auf das Recht auf derartige Zurechtweisungen muss er sich regelmäßig berufen, da die Angestellten des Supermarkts ihre Arbeit oftmals erschreckend liederlich verrichten. Dass er in solchen Fällen bisweilen die Contenance zu verlieren pflegt, ist ihm durchaus bewusst, und für eine Außenstehende dürfte sein Gebaren wohl nur bedingt nachvollziehbar sein. Doch in jüngerer Vergangenheit hatte er seine Emotionen diesbezüglich stark zurückgebunden, die letzte Zurechtweisung liegt lange zurück, und überhaupt erscheint es ihm unwahrscheinlich, dass ihre Verachtung in einem solchen Zwischenfall wurzeln könnte.
Entweder liegt eine Verwechslung vor. Oder sie hat ihn vollkommen grundlos zum Adressaten ihrer hässlich anzusehenden Verachtung erkoren. In beiden Fällen trifft ihn keine Schuld. Dennoch fühlt er, wie etwas an ihm nagt und um sich schlägt, ein kleiner Kobold, der in seinem Kopf hockt und gegen die Schädeldecke hämmert, umgeben von dunklen Samen in rotem Fleisch. Er kann die Hiebe förmlich spüren, sie kommen regelmäßig, im Einklang mit seinem Herzschlag. Es ist eine zutiefst feindliche Haltung, die der kleine Kobold zeigt, eine offensive Abscheu, und obschon der Kobold sich in der Physiognomie deutlich von der Frau im Supermarkt unterscheidet, gleichen sich ihre Gesichtszüge; auch der Blick des Kobolds ist von Niedertracht beseelt, auch der Kobold trägt die Verachtung ungeschminkt zur Schau.
Nach wie vor steht die merkwürdige Frau vor dem Milchregal, ohne auch nur ansatzweise Anstalten zu machen, ein rudimentäres Interesse an Milch zu zeigen. Stattdessen schmettert sie unvermindert ihren verachtenden Blick in seine Richtung, und er stellt fest, dass sein inneres Gleichgewicht allmählich in Gefahr gerät. Er hat seinen Fingern nicht befohlen, sich zu krümmen, aber sie tun es trotzdem; die Fingernägel graben sich in die Handflächen. Er spielt mit dem Gedanken, sich eine Papaya zu greifen und sie in ihre Richtung zu schleudern. Er wählt eine besonders weiche und reife Frucht und sieht sie bereits durch den Supermarkt fliegen, mit erstaunlicher Wucht geworfen, gespeist vom Zorn eines grundlos Verachteten. Die Papaya trifft ihr Ziel mit höchster Präzision, prallt an die Schläfe der Frau. Die Schale bricht auf, und das orangefarbene Fruchtfleisch und die schwarzen Kerne breiten sich als zähe Masse auf dem Gesicht aus, und endlich, endlich zieht sich die Verachtung zurück. Endlich fällt die herablassende Installation im faltigen Antlitz der Frau in sich zusammen. Was übrig bleibt, ist nur eine grobe Skizze, der rudimentäre Entwurf einer Empörung, und dieses Bild, dieses Bild der entwaffneten Frau, es löst eine unbekannte Genugtuung in ihm aus, eine Zufriedenheit, der auch der kleine Kobold in seinem Kopf nichts entgegenzusetzen hat. Er verkriecht sich, der kleine Kobold, oder er würde es tun, denn das Werfen der Papaya war lediglich theoretischer Natur, eine Wunschvorstellung, die in der Realität nicht von Belang sein kann.
Während er sich dem Bedauern hingibt, dass ihm Moral und Anstand das Werfen von exotischen Früchten verwehren, bemerkt er, dass die Frau sich vom Milchregal löst und ihren schmalen Körper langsam in seine Richtung bewegt. Mit gesenktem Kopf klammert er seinen Blick an eine beliebige Kaktusfeige, und erst, als die Frau direkt an ihm vorübergeht, schaut er auf und einen Moment lang direkt in ihr Gesicht. Von der Verachtung ist keine Spur zu erkennen, stattdessen nickt sie ein wenig und schenkt ihm einen wachen Blick, sogar ein Lächeln. Er zuckt zusammen, gerät ein wenig ins Wanken, ist irritiert und erstaunt zugleich. Die Frau geht weiter, mit leichten Schritten, nahezu federnd. Von hinten wirkt sie wie ein kleines Mädchen, manierlich und lieb, unschuldig und rein.
Er greift nach einer Papaya, hält sie sich vor die Augen, dreht sie hin und her, drückt mit dem Daumen leicht gegen den weichen Körper. Einige Sekunden lang verharrt er, lauscht auf Bewegungen oder Laute in seinem Kopf, doch der kleine Kobold scheint sich nicht zu regen. Alles ist still in ihm. Er weiß, dass dieser Zustand nicht von Bestand sein kann. Aber einen Moment lang überwiegt die Unbeschwertheit, die Leichtigkeit. Er wiegt die Papaya in seinen Händen, betrachtet die Farbveränderungen auf der Schale. Dann legt er sie vorsichtig in seinen Einkaufskorb.

Großartig geschrieben.
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Vielen lieben Dank dir!
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Tja, mich beschäftigt die Frage, warum ihm die Frau zunickte als sie an ihm vorbei ging. Er hatte diese Verkäuferin angepflaumt und zusammen gestaucht. Frauen können sehr solidarisch sein, wenn sie mit ansehen müssen, wie eine der ihrigen angepflaumt und zusammen gestaucht wird. Dann noch von so einem, der offensichtlich irgend eine Art giftiger Genugtuung dabei verspürt, Kritik an anderen zu üben und sie dann zurecht zu moralisieren. Ja, ich kann mir diesen Blick dieser vermutlichen Beobachterin vorstellen. Er konnte exotische Früchte sicherlich schockfrosten. Dann freundlich nickend vorbei zu schlurfen als sei nix gewesen…also das ist einfach…cool.😎
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Ganz unabhängig davon, wie’s in dieser Situation gewesen sein mag: Das freundlich nickende Vorbeigehen ist eine ziemlich starke Taktik, die so manchem Gegenüber jeglichen Wind aus den Segeln nimmt und oftmals gleich das ganze Schiff versenkt… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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An deinen Geschichten liebe ich auch die Kombinationsmöglichkeiten…es wäre auch möglich, dass die Beobachterin an etwas dachte, das sie hasst, (zum Beispiel exotische Früchte…) und dass sie deshalb (unbewusst) den Mann so ins Visier genommen hat. Alles beruht nur auf Vermutungen und ein freundliches Zunicken kann so unglaublich viel bewirken…
Danke für Deine wieder fesselnde Lektüre, gerne goutiert von
Amélie 🍁
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Vielen lieben Dank dir, fürs Lesen und fürs Der-Fantasie-freien-Lauf-Lassen und für deine Worte! Herzliche Grüsse…
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Solche Blicke wecken Kobolde, oh ja. Wobei der Kobold nichts vom schlechten Tag der Frau ahnt, er ist in dem Moment lediglich der antwortende Teil des Universum. Ab nun ist es nur ein kleiner Schritt hin zu tieffliegenden, prallreifen Südfrüchten. Manchmal kommt noch ein schlichtes Gemüt und fiese Erinnerungen hinzu. Etwa an den Vater, der sein Kind verwackelte, auf dass es einen für ihn erkennbaren Grund für sein Geschrei gebe.
Noch mal gut gegangen 🙏
Danke fürs schreiben, lieber Disputnik 🙂
Und Grüße 👋
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Manche Kobolde sind vielleicht auch immer wach und lauern lediglich darauf, dass sie rumpelstilzmässig unter der Hirnrinde Radau machen können… Aber ja, nochmals gut gegangen. Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte! Und liebe Grüsse zurück…
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