Ich bin eine 25-jährige Frau. Nein, ich bin eine 39-jährige Frau. Nein, ich bin ein kleiner Junge, der im Körper einer 39-jährigen Frau wohnt. Nein, ich bin eine 52-jährige Frau, die sich vorstellt, ein kleiner Junge zu sein, der im Körper einer 39-jährigen Frau wohnt, die gerne eine 25-jährige Frau wäre. Ich bin ziemlich verwirrt. Als 52-jährige Frau sollte ich nicht so verwirrt sein.
Ich habe ein neues Kleid gekauft, ein Sommerkleid, obwohl der Sommer längst Geschichte ist. Das Kleid stehe mir gut, hat die Verkäuferin gesagt. Sie war eine 25-jährige Frau. Wäre ich eine 25-jährige Frau und würde einer 52-jährigen Frau beim Anprobieren eines Kleides zuschauen, würde ich es mit der Wahrheit wahrscheinlich auch nicht so genau nehmen.
Ich werde kaum mehr zu Hochzeiten eingeladen.
Ich war immer jünger als jetzt. An jedem Tag, an jedem verdammten Tag meines verdammten Lebens war ich jünger als heute. Und der Trost, dass ich heute zumindest jünger bin als morgen, ist gar keiner, denn was kümmert mich das Morgen, wenn es am Ende jedes Tages vom Heute gefressen wird.
Ich wohne in einem Haus, das manchmal knarrt und zittert, wenn der Wind weht. Ich wohne in einem Körper, und dieser Körper spielt mir Streiche. Irgendjemand lacht, und ich weiß nicht, wer es ist, aber ich finde es nicht lustig. Häufig friert er, der Körper, dann zittert er, wie das Haus. Immerhin knarrt er nicht, der Körper.
Ich trinke manchmal Alkohol. Eigentlich trinke ich häufiger als manchmal. Wenn ich trinke, ist es besser. Jeder Schluck macht es ein wenig einfacher. Ein wenig banaler. Ein wenig freundlicher. Ein wenig leichter. Es ist nicht gut, das Trinken. Es ist nicht gesund. Aber es hilft.
Ich glaube, früher war das Leben weniger paradox.
Ich höre bisweilen alte Lieder. Alte Lieder wie Love Hurts in der Version von Nazareth. Love Hurts klingt heute ganz anders als damals. Nein, Love Hurts klingt heute noch genau gleich, doch damals hatte ich andere Ohren. Heute höre ich Love Hurts mit Ohren, die sich erinnern. In jeder Note die Sehnsucht. In jedem Ton der Nachhall der Traurigkeit von damals, vermengt mit der Traurigkeit von heute.
Ich schmerze. Immer wieder erkenne ich Schmerzen nicht als etwas, das mir zustößt, sondern als aktiven Akt, der von mir ausgeht. Was auch immer weh tut, ist durch mich erzeugt. Früher wurde ich geschlagen, einige Male als Kind, einige Male als junge Frau. Das waren zugefügte Schmerzen. Ich wurde schon lange nicht mehr geschlagen. Wenn es heute schmerzt, dann nur wegen mir.
Ich fahre hin und wieder allein im Auto über die Autobahn und höre Musik und schreie. Das Auto ist der einzige Ort, an dem ich schreien kann, ohne mich rechtfertigen zu müssen. Manchmal fahre ich zu schnell, obwohl es doch ziemlich widersinnig ist, denn wenn ich schneller fahre, bin ich schneller da und muss mich schneller wieder rechtfertigen. Letzthin bekam ich einen Strafzettel, weil ich zu schnell gefahren war.
Ich kann mich nicht immer an den Namen meiner ersten Liebe erinnern.
Ich schaue manchmal junge Männer an, wie sie junge Frauen anschauen. Wenn die jungen Männer dann zu mir hinsehen, schauen sie sofort wieder weg. Manche lächeln kurz und unsicher, bevor sie wegschauen, andere senken den Blick, bevor sie wegschauen, wieder andere mustern mich kritisch, bevor sie wegschauen. Meistens schaue ich dann ebenfalls in eine andere Richtung.
Ich liege häufig im Bett und blinzle in die Dunkelheit. Neben mir schnauft und schnaubt ein alter Ochse, und wenn er sich dreht und wendet, knarrt und zittert das Bett, wie das Haus knarrt und zittert, wenn der Wind weht. Das Schnaufen und Schnauben und Knarren und Zittern füllt den schwarzen Raum, in dem sich mein Blick verliert. Ich versuche jeweils, einen klaren Gedanken zu fassen, aber meistens sind da nur unzählige diffuse Fetzen, die sich nicht greifen lassen, und wenn ich das Licht einschalte, sind sie verschwunden.
Ich frage mich, ob das alles war oder ob noch was kommt.
Ich ziehe mein Sommerkleid an, obschon es nicht die Zeit für ein Sommerkleid ist. Während ich meine Hand langsam, beinahe zärtlich über den Stoff und die Haut darunter gleiten lassen, fühle ich mich zugleich lächerlich und begehrenswert und frage mich, welchem Gefühl ich trauen kann. Ich kenne die Antwort nur zu gut, aber wie ich so in meinem Sommerkleid im Zimmer stehe, gelingt es mir, sie vorübergehend zu ignorieren.
Ich schenke mir ein Glas Wein ein, lege Love Hurts von Nazareth auf, setze mich hin und mustere den Saum meines Sommerkleides. Draußen weht der Wind, das Haus knarrt und zittert. Irgendwo sitzt eine 25-jährige Frau. Irgendwo sitzt ein kleiner Junge. Irgendwo sitzt eine 39-jährige Frau. Ich sitze hier und warte, bis es dunkel wird.

Die Ich-Perspektive war hier die richtige Wahl, denke ich. So ergibt sich eine Einheit aus Inhalt und Form, die den scheinbar untenrinnbaren Selbstbezug bereits im labyrinthischen ersten Absatz eindrücklich vorführt. Absolut lesenswert!
Nur ist die Erzählerin mit ihren zweiundfünfzig Jahren für Nazareth nicht vielleicht doch ein bißchen zu jung (immerhin wäre sie gerade mal sechs gewesen, als das Lied weiland veröffentlicht wurde)? Oder sollte ihr bereits im Kindesalter das Herz gebrochen worden sein?
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Vielen Dank dir für deinen schönen Kommentar! Was Nazareth betrifft; ich bin jünger als die Protagonistin und war bei der Veröffentlichung des Songs noch gar nicht geboren, sah (oder hörte) mich aber in meiner Jugend und auch später immer wieder mit ihm konfrontiert…
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Großartig👏
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Vielen lieben Dank dir!
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Glockenklarer Fall von Mittelalterkrise. Die Achtziger-Graffittis, die diese Frau in ihrer Jugend auf Schulhofmauern und an Häuserwänden, in Unterführungen und überall so las, führten unter anderem als Mottos „No Future“, „Alles scheisse alles Mist, wenn du nicht besoffen bist“ und „Nur Idioten halten Ordnung- das wahre Genie beherrscht das Chaos“ und ähnliche Parolen im Schilde. Letztere hat sie leider nicht ausreichend automatisiert und verinnerlicht. Sonst würde sie im Sommerkleid und Doc Martens zu den Death Kennedies (too drunk to fuck, hihi) Pogo stampfen und ihr Haar mal so richtig für Helge Schneider schütteln…
Und alle Jüngeren würden sie bewundern, weil sie frei ist und immer noch genug frei für eine unabhängige, überparteiliche und möglichst auch überregionale Meinung…
Du beschreibst Deine Geschichten-Heldin wieder einmal zum Nachdenken schön.
Liebe Grüße
Amélie
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Wahrscheinlich helfen in vielen Fällen selbst die besten Graffitiweisheiten nichts mehr… Aber in einem Paralleluniversum ist sie da draussen, im Sommerkleid, schüttelt ihr Haar und hat den Mut zur Freiheit im Gesicht…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte! Herzliche Grüsse zurück…
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Ich glaube, deiner Geschichten-Heldin wäre vielleicht doch noch zu helfen. Solange sie noch Lust hat Musik zu hören, Sommerkleider anzuziehen und nach Leben und Lust aus zu spähen, so lange besteht auch noch Hoffnung für ungenierte und unzensierte Freiheit. Schlimm und hoffnungslos würde es ja erst, wenn sie auf literweise Wodka, dubiose Softpornoseiten und ausbeuterisches Shopping-TV umsteigen würde, beim Zocken auf illegal betriebenen Pokerseiten im Darknet all ihr Gespartes verlöreund das bunte Kleid ganz hinten links im Schrank in einem alten Gummistiefel als No-Future-Artefakt einer aufgegebenen Babyboomergeneration vergammeln würde. Es sei denn, sie gehört noch zur Pillenknickpopulation. (Was auch nicht netter klingt).
Du siehst: Deine Geschichtenheldin hält mich super auf Trab.
Danke☺️
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Der Wodka und die Softpornoseiten kommen dann in der Fortsetzung 😉
Vielen Dank nochmals fürs Lesen und fürs Auf-Trab-Bleiben….
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Nur Westküsten-Punk (Dead Kennedys) und britische Herzschmerz-Balladen-Cover (Nazareth) passen nicht so ganz zusammen, oder?
Insofern erschiene mir die Vorstellung recht abwegig, daß die Ich-Erzählerin des vorliegenden Textes irgendwo – sei es in ihrem knarrenden und zitternden Haus (nicht, daß es noch einstürzt!) oder anderswo – Pogo tanzen würde; und die von Dir angeführten Graffiti aus den 80ern hatte sie wahrscheinlich schon damals gar nicht wahrgenommen oder als häßliche Schmierereien ohnehin absichtlich übersehen.
Ferner wäre ich mir nicht so sicher, ob die Jüngeren heute ausgerechnet so etwas wie eine überparteiliche Meinung wirklich alle zu schätzen wüßten … obzwar dies freilich davon abhängen mag, welcher Krise genau jene Überparteilichkeit letztlich entsprungen wäre. Handelte es sich um eine solche, deren Lösung die verantworlichen Parteien nicht erst seit heute eher im Wege stehen, so mag dies durchaus ihre Zustimmung oder, wie Du schreibst, auch ihre Bewunderung finden! (Dafür gibt es ja auch einschlägige Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit.)
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Lieber Auden, danke für Dein Miteinbringen. Disputniks Geschichten setzen oft etwas in mir frei…es ist wie eine Alternative zu der Ausweglosigkeit, denn die Frau liegt in Ketten, sie ist beschämt, weil sie Falten hässlich findet. Wie sehr würde ich mir wünschen, jemand sagte ihr, wie schön sie sei. Auch ohne Jugend, Lack und Puder. Auch ohne Sommerkleid. Westküstenpunk, puh. Das zieht und kribbelt…allein dieses windschöne Wort. Jetzt überlege ich grad, ob wohl Yellow Biafra Charles Aznavours Chansons kannte. Zuzutrauen wäre es ihm. Umgekehrt wird es schon schwieriger. Andere Epoche usw.
Herzlich Dank für Deine Inspiration
Amélie
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Soooooo toll, lieber Disputnik! 🤗
🎵🎶🎵🎶🎵🎶🎵🎶🎵🐦
Schönen Herbstbeginn dir…
HG vom Finbar
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Soooooo schön, dein Kommentar! Vielen Dank dir, lieber Finbar! Und herzliche Grüsse zurück…
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*freu*
Schöne Woche dir 🙂
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