Etwa eine Woche, bevor die Welt untergeht, hat Hugo ein Vorstellungsgespräch für eine Stelle in der Redaktion einer Boulevardzeitung. Er mag die Boulevardzeitung nicht, er liest sie nicht und findet die überdimensionalen Schlagzeilen fürchterlich, doch er ist arbeitslos und antriebslos und braucht Geld, also geht er hin, zu jenem Gespräch. Im Besprechungszimmer hängt ein ziemlich hässliches Bild an der Wand, ein Ölgemälde, das einen dunkelgrau gekleideten Reiter auf einem weißen Pferd vor senfgelbem Hintergrund zeigt. Die zwei Männer, die ihm beim Vorstellungsgespräch gegenübersitzen, sind schmierig und ungreifbar, Hugo glaubt ihnen kein Wort, ihre Krawatten widerstreben ihm und vor allem ihre lieblosen Gesichter. Auch die Arbeitsstelle klingt in ihren Beschreibungen alles andere als verlockend, und nach kurzem Überlegen beantwortet er die Frage, ob er sich vorstellen könne, in der Redaktion der Boulevardzeitung zu arbeiten, mit einem herzhaften Nein. Er will nachschieben, dass er seine Seele nicht dem Teufel verkaufen wolle, doch er verzichtet darauf und verabschiedet sich mit einem möglichst seriös und zugleich stolz wirkenden Nicken. Nachdem Hugo das Gebäude der Boulevardzeitung verlassen hat, geht er durch die Straßen der Stadt und fragt sich, ob er das Richtige getan habe. Eigentlich sei ja alles besser als gar nichts, denkt er sich, es wäre ja nur ein Job gewesen, und vielleicht wäre es ratsamer gewesen, sich ein wenig zu verbiegen und die Stelle anzunehmen. Dann denkt Hugo an den dunkelgrau gekleideten Reiter auf dem weißen Pferd und an die lieblosen Gesichter der beiden Männer und an die überdimensionalen Schlagzeilen. Er schüttelt sich kurz und zuckt mit den Schultern. Es ist, wie es ist, denkt er sich. Davon geht die Welt nicht unter.
Als er einige Tage später an einem Kiosk vorübergeht und schon aus weiter Ferne die große Schlagzeile der besagten Boulevardzeitung lesen kann, hält Hugo erschrocken inne. Die Welt geht unter, steht da. Er sieht davon ab, sich eine Ausgabe der Zeitung zu kaufen, doch die betroffenen Gesichter der Passanten und die um sich greifende Sprachlosigkeit lassen ihn ahnen, dass die Boulevardzeitung für einmal keine Unwahrheiten berichtet. Er ruft seinen früheren Lehrer an, der immer alles wusste, um ihn zu fragen, ob die Welt tatsächlich untergehe, aber sein Anruf wird von der Ehefrau seines früheren Lehrers beantwortet, die ihm mitteilt, dass ihr Gatte gestorben sei, schon vor Monaten. Doch nun, wo die Welt ja untergeht, ist es sowieso vollkommen egal, sagt die Ehefrau. Hugo glaubt, im Telefonhörer ihr Schulterzucken hören zu können. Dann legt sie auf.
Auf einer kleinen Anhöhe oberhalb der Stadt setzt sich Hugo ins feuchte Gras und blickt zum Horizont, wo sich der Weltuntergang bereits ankündigt. Sein Bauch knurrt, er hat Hunger, und obwohl er ein Schinkensandwich im Rucksack hat, mag er nicht mehr essen; er wird sowieso nicht verhungern und dennoch sterben, wie alle anderen auch. Während er zusieht, wie die Welt allmählich zerfällt, überlegt Hugo, ob es nicht vielleicht doch ratsamer gewesen wäre, die Stelle in der Redaktion der Boulevardzeitung anzunehmen, womöglich hätten sich die Dinge anders entwickelt. Überhaupt wundert er sich, was anders verlaufen wäre, wenn er sich in gewissen Momenten seines Daseins anders verhalten und entschieden hätte. Wenn er als Kind in einem Fußballverein gespielt hätte, wäre er womöglich athletischer geworden, hätte weniger Komplexe und mehr Freunde gehabt, wäre beliebter gewesen und hätte sich einer gesünderen Haut erfreuen können. Wenn er ein Studium absolviert hätte, wäre er womöglich klüger und belesener geworden, hätte in Gesprächen mehr zu erzählen gewusst und müsste weniger häufig mit den Schultern zucken. Wenn er damals beim Radfahren besser aufgepasst hätte, wäre da nicht die kleine Narbe an der Stirn. Als Hugo nach der Narbe tastet, hört er ein weiteres Knurren, doch dieses Mal ist es nicht sein Bauch, sondern der Himmel oder die Erde oder die Dinge dazwischen. Es knurrt und knarrt, es grollt und knirscht, das Licht schwindet, begleitet von Blitzen und einem merkwürdigen Flackern. In Hugos Kopf sitzt der dunkelgrau gekleidete Reiter auf dem weißen Pferd und starrt in seine Richtung, schüttelt ganz langsam den Kopf und galoppiert dann fort. Zurück bleiben ein senfgelber Hintergrund und ein Haufen Pferdemist, der ihm zuvor gar nicht aufgefallen war.
In den letzten Sekunden fragt sich Hugo, ob es sinnvoll war, die letzten Minuten und Stunden damit zu verbringen, die letzten Tage und Wochen und Jahre zu beurteilen und Entscheidungen zu hinterfragen. Als es dann endlich zu Ende ist, zuckt er ein letztes Mal mit den Schultern. Und ist froh, dass er das Bereuen des Bereuens nicht auch noch bereuen muss.

Es gibt schon welche, denen ein Bereuen wirklich „stehen“ würde 😉
Nun ja, mir tut es gut, in Rückschauen nicht nur zu bereuen (es scheint irgendwie unvermeidbar zu sein?!), sondern auch mich zu freuen – über alles, was gelang, was gut tat – mir und anderen 🙂
LG, Hille
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Ein wenig Reflexion ist wohl nicht nur unvermeidbar, sondern auch sinnvoll (schon allein, wenn man aus Fehlern lernen will, muss man sich daran erinnern, dass man sie gemacht hat…).
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken, und liebe Grüsse zurück…
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Was hätte er wohl noch alles machen können wenn es eh egal ist.
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Er hätte wohl auch viel machen können, wenn es nicht egal gewesen wäre, aber eben… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und liebe Grüsse…
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Ja da hast du recht.
Liebe Grüße zurück.😊
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Schön, wenn es irgendwann vorbei, geschafft und irgendwie dann doch auch erledigt ist.
Es ist ja nicht so, als ob all diese Gedanken, die man sich um sein kleines Selbst und das, was man hätte besser machen können irgend wen, außer einem selbst groß interessieren. Vor allem, wenn das Ende dann wirklich naht…
Bleibt als Handlungsanweisung, sich auch jetzt schon weniger mit dem ewigen Konjunktiv zu beschäftigen…
Wenn das nur so einfach wäre.
Ich mag Ihre Texte.
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Wenn es nur so einfach wäre, auf den Konjunktiv zu verzichten 😉
Oh ja, dieses Bereuen und Hinterfragen ist ziemlich selbstfixiert. Und häufig auch wenig hilfreich…
Herzlichen Dank fürs Lesen und die Worte, und liebe Grüsse!
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Kurz bevor jemand dem totalen Wahnsinn verfällt, könnte sich so ein Szenario abspielen.
2018er Grüße zu dir!
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Dann sorgen wir dafür, dass wir dann zumindest möglichst wenig zu bereuen haben…
Herzlichen Dank dir und liebe Grüsse zurück!
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