Sie wohnten einige Jahre lang im gleichen Haus. Das Haus war voller Leben, war bunt und herzlich, ein wundervoller Mikrokosmos, in welchem so vieles und so viele Platz hatten. Es war ein schönes Haus, denkt Yvonne. Doch vielleicht war es das auch nur wegen ihr. Wegen Francesca.
Sie hat sich eine Nudelmaschine gekauft. Schon lange hat sie sich eine gewünscht, hat mit dem Gedanken gespielt, wie es wäre, ihre eigene Pasta herzustellen, die Küche voller Teig und Mehl. Als sie es einfach getan und die Nudelmaschine gekauft hat, war Yvonne dann doch ein wenig erstaunt. Sie war eigentlich ziemlich gut darin, ihre Träume und Wünsche vor sich her und so weit von sich weg zu schieben, dass sie früher oder später unweigerlich im Getöse der Zeit zerbrachen und zerbröselten, wie altes Brot, das nicht einmal mehr die Enten im Park fressen wollten. Der Kauf der Nudelmaschine, er war ungewöhnlich.
Francesca war einige Monate vor Yvonne ins Haus gezogen. Als Yvonne ihre kleine Zweizimmerwohnung besichtigt hatte, war sie Francesca im Treppenhaus begegnet. Sie hatten sich freundlich zugelächelt und genickt. Nachdem Yvonne zusammen mit dem Hausverwalter einige Schritte weitergegangen war, hatte sie sich nach Francesca umgedreht, die ihrerseits ebenfalls in ihre Richtung sah. Ihre Blicke trafen sich, sie lächelten sich erneut an, und Yvonne spürte ein leichtes Schieben und Zerren in ihrem Brustkorb.
Sie hat sich sogar eine Schürze angeschafft. Zuvor dachte sie stets, Schürzen seien etwas für alte Frauen, doch sie war keine alte Frau, war noch nicht einmal dreißig Jahre alt. Trotzdem bindet sie sich nun ihre neue Schürze um, streicht einige Falten glatt, spürt den starren Stoff unter ihren Fingern. Es fühlt sich gut an.
Sie hatten sich relativ schnell angefreundet. Zunächst blieben ihre Begegnungen rudimentär und beliebig, doch schon bald luden sie sich gegenseitig in ihre Wohnungen ein, tranken gemeinsam Kaffee oder Tee, dann Weißwein oder Mandellikör. Francesca schien in jedem Moment beinahe zu bersten, so sehr drängte ihr Temperament aus den Poren und Gliedern. Yvonne war fasziniert von Francesca. Und mit der Zeit bemerkte sie, dass fasziniert nicht das richtige Wort war.
Sie betrachtet die Ansammlungen von Mehl auf dem großen Holzbrett auf dem Küchentisch. Sie sehen aus wie skurrile Landschaften, unbekanntes Terrain abseits der Straßen und Wege. Sie knetet den Teig, wiegt ihn in ihren Händen, fügt noch ein wenig Mehl hinzu und lässt ihn schließlich eine Stunde lang ruhen. Dann beginnt sie, die einzelnen Teigportionen durch die Nudelmaschine zu befördern.
Eines Abends tranken sie zunächst Wein und danach Tequila, hörten Nina Simone und Lhasa de Sela, redeten nicht über Gott, aber über die Welt und ihren Platz darin. Mit der Zeit saßen sie immer schräger auf dem Sofa in Yvonnes Wohnung, neigten sich einander entgegen. Als sie sich küssten, zuckte Yvonne kurz zusammen. Sie wollte das, hatte sich lange genug danach gesehnt. Trotzdem war sie verunsichert. Doch mit jedem weiteren Kuss ließ die Verunsicherung nach, löste sich auf in der Nähe ihrer Körper, bis Yvonne sie nicht mehr spürte.
Die Teigwaren hängen über dünnen Stangen, die ganze Küche ist voll davon. Leere Schüsseln, die mehlige Nudelmaschine und vereinzelte Teigresten sind Zeugen ihrer Arbeit. Yvonne berührt die Nudeln mit ihren Fingern, schiebt einige zurecht, sortiert andere aus. Sie reibt die Hände an ihrer Schürze sauber und schenkt sich ein Glas Rotwein ein. Während sie die Nudeln betrachtet, muss sie gähnen, legt den Unterarm kurz an ihre Stirn. Sie ist erschöpft, sie ist müde. Doch sie ist zufrieden, zum ersten Mal seit langer Zeit.
An jenem Abend blieb Francesca über Nacht in Yvonnes Wohnung, und es war nicht das einzige Mal, dass sie gemeinsam einschliefen und aufwachten. Yvonne fühlte sich gut, und obwohl sie noch ein wenig schwankend durch die Tage ging und nicht richtig wusste, was gerade geschah, war sie glücklich, so glücklich wie selten zuvor. Nach etwa zwei oder drei Wochen begann Francesca jedoch, sich immer häufiger zu entschuldigen, wenn Yvonne sie einlud, hatte keine Zeit oder fühlte sich müde. Sie sahen sich noch einige Male, bei denen Francesca allerdings äußerst wortkarg und zurückhaltend blieb. Irgendwann sagte Francesca, dass sie aus dem Haus ausziehen werde. Als sie erzählte, dass sie ihr Verlobter von einem längeren Auslandaufenthalt zurückgekehrt war und sie nun mit ihm zusammen in einer anderen Stadt leben werde, konnte sie Yvonne nicht ansehen. Francescas Augen füllten sich mit Tränen, doch Yvonne konnte kein Mitleid empfinden, war einfach nur wütend. Als Francesca sagte, dass sie sich ja gelegentlich schreiben könnten, nickte Yvonne matt und zuckte mit den Schultern.
Einige Nudeln möchte sie später kochen, die anderen lässt sie komplett trocknen, um sie aufbewahren zu können. Sie räumt die Küche auf und geht dann ins Wohnzimmer, legt eine Platte von Nina Simone auf und setzt sich auf das Sofa. Auf dem kleinen Tisch liegt noch immer die Karte. Auf der Vorderseite sind selbstgemachte Nudeln abgebildet, auf der Rückseite sind einige wenige Worte zu lesen. Es tut mir leid, steht da. Yvonne wendet die Karte in ihren Fingern, riecht daran und legt sie wieder auf den Tisch. Dann lehnt sie sich zurück, legt den Unterarm an ihre Stirn und hört zu, wie Nina Simone singt. Sie fragt sich, was genau Francesca leid tut. Sie fragt sich, ob ihr selbst etwas leid tut. Schließlich schüttelt sie den Kopf. Und ist froh, dass sie die Nudelmaschine gekauft hat.

Was immer es war, ich mag die ebenso nüchtern distanzierte wie einfühlsame Weise, mit der Du die Beziehungsgeschichte erzählst. Und manch eine hätte wohl in dieser Situation auch gleich die Nudelmaschiene in den Müll geworfen.
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Das freut und ehrt mich sehr! Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte. (Und die Nudelmaschine muss überleben!)
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Hier stürmt und schneit es auch und ich lese und mache mir meine Gedanken.
Ich glaube fast nicht, daß es nur ein Ausprobieren war. Oder doch?
Francesca wußte, daß es für sie nur eine begrenzte wunderschöne Zeit sein konnte, trotz aller Gefühle, die sicherlich auch ihr Inneres durcheinander wirbelten.
Dann zog sie die vernünftige Normalität vor, DIE hatte Zukunft, alles andere war ein Traum.
Aber was tut ihr wirklich leid???
So wie sie handeln die meisten Menschen, denke ich. Sie wählen letztendlich das Sichere und lassen andere mitten in ihren Träumen stehen – und irgendwie geht es weiter und wenn es mit Nudelmaschine ist…
Liebe Grüße von Bruni
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Es ist ganz wunderbar, wie hier die Gedanken wachsen und gedeihen; wie schön! Herzlichen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Worte.
Und ganz herzliche Schneesturmgrüsse zurück!
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Nicht jeder Traum lässt sich verwirklichen…
Liebe Wintergrüße vom Finbar
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Da hast du Recht, lieber Finbar. Und vielleicht ist es ja auch gar nicht immer schlecht so…
Herzliche Grüsse zurück!
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Eine/einer ist immer oder meist trauriger als die/der andere bei einer Trennung.
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Das ist wohl so, noch trauriger… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen!
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Vielleicht war’s ja auch nur ein Ausprobieren… ein Schauen, wie sich gleichgeschlechtliche Liebe „anfühlt“…
mit zwei verschiedenen Ergebnissen.
Liebe Abendgrüße vom Finbar
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So was könnte es gewesen sein, ja…
Herzlichstürmische Grüsse zurück…
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Man weiß nie genau, was in den liebenden Menschen WIRKLICH vorgeht, lieber Disputnik,
aber deine schriftlichen Einblicke dbzgl. sind IMMER sehr lesenswert…
herzlichen Dank auch mal dafür!
Hab einen feinen Tag (hier stürmt es und schneit’s bei null Grad)…
Herzliche Morgengrüße
vom Finbar
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Herzlichen Dank dir, lieber Finbar, fürs Immer-wieder-Lesen und für deine feinen Worte!
Schneestürmische Grüsse zurück…
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🌟🌟🌟
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Nee, das war eine zwischendurch Liebelei. Bis der Verlobte wieder zur Verfügung steht.
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Vielleicht ein wenig von beidem? Oder ganz was anderes? Wer weiss…
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Das werden wir wohl nie erfahren.
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Auch möglich…
Das Leben ist reich an Möglichkeiten!
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Da hast du recht. Es ist nichts unmöglich.
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🦉
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Das ist es, ja!
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🦉
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