Der Sturm war heftig, war wütend, der Sturm hat an einem Baum gezerrt, und der Baum hat nicht standhalten können, ist umgeknickt, der eigentlich so stämmige Stamm ist im unteren Viertel gebrochen, und nun liegt er da, der Baum, allein auf der weiten Wiese, stumm und still, besiegt und machtlos; ein Gefallener, ein Unterlegener.
Sie nähert sich dem Baum, mit achtsamen Schritten und langsamen Bewegungen, beinahe so, als wäre der Baum ein verletztes Raubtier, ein weidwunder Wolf vielleicht. Der Wind ist längst wieder eingeschlafen, der Sturm liegt einige Tage zurück, und während sie ihm entgegengeht, denkt sie an die Zeit, die der umgestürzte Baum bereits zwischen hohen Gräsern auf der Wiese liegt, einsam und gebrochen, und mit jedem Schritt pocht die Traurigkeit lauter in ihren Ohren. Als sie den Baum erreicht, kniet sie sich vor ihn hin und legt ihre Hand auf die knorrige Rinde, die Fingerspitzen ertasten die Spalten zwischen den einzelnen Fragmenten. Die Adern sind kalt und starr, der Lebenssaft ist zum Stillstand gekommen. Sie lässt ihre Hand über die Baumrinde gleiten und senkt ihren Blick.
Sch, flüstert sie, langgezogen und gleichmäßig. Alles ist gut. Du bist nicht allein. Ich bin ja da. Sie kommt sich nicht dumm vor, weil sie mit dem toten Baum spricht. Sie käme sich dumm vor, wenn sie es nicht täte.
Später legt sie ihren Oberkörper auf den Baum und atmet seinen Duft ein, bitter und erdig. Irgendwann schläft sie ein. Als sie wieder erwacht, liegt sie im abendfeuchten Gras, ein Halm kitzelt ihre Nase, die Luft ist kühler, das Licht schwächer geworden. Erschrocken fährt sie hoch, richtet sich auf und blickt sich um. Da ist kein Baum mehr zu sehen, keine knorrige Rinde, keine merkwürdig abstehenden Äste. Da ist nur das hohe Gras, erst in weiter Ferne ein beliebiger Wald. Sie steht auf, sieht sich ein weiteres Mal um, doch einen umgeknickten Baum sucht sie vergeblich. Als sie sich langsam von der Stelle entfernt, an welcher sie erwacht ist, wirft sie wiederholt Blicke zurück, sieht aber weiterhin nichts. Und mit jedem Schritt pocht die Traurigkeit lauter in ihren Ohren.
Sch, flüstert sie, langgezogen und gleichmäßig. Alles ist gut. Du bist nicht allein. Sie kommt sich nicht dumm vor, weil sie mit sich selbst spricht. Sie kommt sich dumm vor, weil sie sich selbst nicht glaubt.

Eine wundervolle Geschichte, die mich in lhren Bann zieht und nicht gleich wieder loslässt.
Ich wittere ein Geheimnis und ich gehe ihm nach
Lächelnde Grüße zum Morgen von Bruni
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Oh, wie schön, dass du dem Geheimnis nachgehen magst… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte. Und liebe Grüsse zurück!
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*schmunzel*
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Kuschelbäume.
Was für ein Wort…
Unter der dicken borkigen Rinde krabbelt Insektizides, was lebt sonst in Totholz? Mikrokosmisches, eine kaum erkennbare, leider für Menschen geschlossene Gesellschaft emsig miteinander Betulicher. Wer sich alleine in den Wald traut, hat Mut allein sein zu wollen und niemand kann verdenken, dass manche darin Wandernde sich oder den Bäumen oder den geschlossenen Gesellschaften zusprechen als könne ein gebürtiger Borkenkäfer einsame Menschenworte verstehen. Doch wer weiß schon was tote Stämme denken wenn sie melancholisch sind?
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Ich weiss nicht, was sie denken, aber ich mag den Gedanken, dass sie’s tun…
Herzlichen Dank für dein Lesen und für den wunderbaren Ausflug zu den Borkenkäfern im Wald! Liebe Grüsse!
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Leider ist das Betreten unserer Wälder hier im Teutoburger Wald bis Februar wegen Lebensgefahr verboten. Deine Geschichte weckt meine Waldlust. Ich hoffe, bei Euch wütete Friederike weniger schlimm als bei uns. Deine Geschichte kommt grad richtig tröstend jetzt. Liebe Grüße✨
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Bei uns war vor allem Evi unterwegs, sie war relativ gnädig… Aber in den Wald möcht ich trotzdem bald mal wieder…
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Alles nur geträumt?
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Wer weiss 😉
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