Sie hat ein Eichhörnchen überfahren. Es lief vor ihr über die Straße, und die Straße war nass, und die Sonne, die durch die Wolkendecke gebrochen war, hatte sie geblendet, und sie war wirklich aufmerksam und konzentriert, sie war eigentlich eine gute Autofahrerin, und sie hat noch versucht, dem Tier auszuweichen, doch das alles ändert nichts daran, dass sie das Eichhörnchen überfahren hat, es getötet hat, ein Leben beendet hat.
Sie hat mit dem Freund ihrer besten Freundin geschlafen. Es ist schon sehr lange her, und er war zwar zu jenem Zeitpunkt gar nicht mehr der Freund ihrer besten Freundin, sondern der Ex-Freund ihrer besten Freundin, die Trennung lag schon mehrere Monate zurück, und sie war betrunken, und sie hatte sich in jener Zeit sehr einsam gefühlt, und es war nur eine Nacht, der Sex war kurz und schlecht, und sie hat es ihrer besten Freundin erzählt und war froh, dass diese ihr nicht böse war, und eigentlich war das Ganze gar nicht so schlimm, doch heute, so viele Jahre später, beißt sie noch immer auf die Unterlippe, wenn sie daran denkt, und ihre beste Freundin von damals ist heute nicht mehr ihre beste Freundin, sie sehen sich kaum mehr, und dass dies so ist, liegt nicht an der Tatsache, dass sie mit dem Ex-Freund ihrer ehemals besten Freundin geschlafen hat, sondern wohl einfach am Lauf der Zeit, und dennoch muss sie aufpassen, dass sie nicht zu heftig zubeißt, die Unterlippe schmerzt bereits ein wenig.
Sie hat keine Ahnung von Palästina. Oder vielleicht doch, vielleicht hat sie eine Ahnung, eine sehr vage Ahnung, und dass diese Ahnung so vage ist, nagt an ihr, und sie weiß nicht genau, ob sie sich Unwissen oder Ignoranz oder Dummheit vorwerfen will, vielleicht ist keiner dieser Begriffe wirklich passend, doch zugleich ist auch keiner dieser Begriffe wirklich unpassend, und sowieso bleibt unverändert die Tatsache, dass sie nicht weiß, sondern höchstens ahnt, was in Palästina geschah und weiterhin geschieht, wie sie auch nicht weiß und höchstens ahnt, was im Jemen geschah und geschieht, oder in Syrien, oder in Somalia, oder in Afghanistan, oder in der Ukraine, oder in Nigeria, oder, oder, oder.
Sie hat ein Buch gestohlen. Es war nur ein kleines Buch, ein schmaler Gedichtband, geschrieben von einem Dichter aus der Region, und die Gedichte haben ihr gar nicht besonders gefallen, aber das Buch war schön, es war sehr hübsch aufgemacht, mit hochwertigem Einband, aus Leinen vielleicht, in hellem Grau mit einer rätselhaften Grafik auf der Frontseite, und es war viel zu teuer für ein solch dünnes Büchlein, also hat sie es in eine dunkle Ecke der Buchhandlung getragen und in ihre Tasche gleiten lassen, und noch Minuten, nachdem sie die Buchhandlung verlassen hatte, pulsierte ihr Blut im Hals, und zu Hause hat sie das Buch in ihr Regal gestellt und nie mehr hervorgeholt, und jetzt, bei einer Lesung einer jungen Autorin, deren Schwester sie kennt, wird ihr ein Dichter vorgestellt, ein älterer Herr, erstaunlich klein und schmal, und als sie den Namen hört, zuckt sie zusammen und möchte am liebsten nach Hause eilen, um das kleine und schmale Büchlein aus dem Regal zu nehmen und in einer Kiste im Keller zu verstauen, doch sie bleibt stehen und schaut überall hin, nur nicht in die Augen des kleinen und schmalen Dichters.
Sie hat an Eichhörnchen gedacht, hat an Sex gedacht, hat an Palästina gedacht und an das gestohlene Büchlein, und jetzt denkt sie, dass sie vielleicht zu viel denkt, dass sie doch eigentlich nicht so viel denken sollte, doch dann denkt sie, dass sie vielleicht zu wenig denkt, zu wenig oft, zu wenig tief, dass sie doch eigentlich viel mehr denken sollte, und dann weiß sie nicht mehr, was sie denken soll.

Ein bemerkenswerter Einblick in eine fremde Gedankenwelt! Die Schilderung der Überlegungen wirkt dabei, wie ich finde, völlig glaubwürdig, als würde der Erzähler die Gedanken einer realen Person wiedergeben. Beeindruckende Charakterisierung!
Hier und da glaube ich überdies, den Anhauch einer gewissen Ironie zu verspüren, insbesondere am Ende mit dem gedachten Wunsch nach einem Gedankenschalter. Und überhaupt bleibt wunderbar in der Schwebe, wie aufrichtig die Denkerin eigentlich in Gedanken und mit sich selbst ist.
Auch formal folgen die verschlungenen Satzgefüge ihren Gedankengängen auf überaus gelungene Weise.
Danke für diesen kleinen Lesegenuß!
(Er hätte ruhig umfänglicher ausfallen dürfen, finde ich.)
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine wunderbaren Worte, sie freuen mich sehr. Und ja, bisweilen ist vielleicht ein wenig Ironie vonnöten, um ein wenig Gewicht von den Buchstaben zu nehmen. (Und nächstes Mal gibt’s dann vielleicht wieder etwas mehr Umfang.)
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