Ein Stück Rinde steht vom Holzstapel ab, ragt hinaus und zeichnet sich wie ein Dolch vor dem schwarzrotblauen Himmel ab, der sich von Minute zu Minute verdunkelt. Er würde das merkwürdige Objekt gerne berühren, es in die Hände nehmen, doch es befindet sich zu weit oben; um es zu erreichen, müsste er am Holzstapel hochklettern, was er jedoch nicht wagt, schließlich will er nicht, dass der Stapel zusammenstürzt, das würde ihn verraten, und vor allem hat er Angst, dass er sich verletzen könnte.
Er lässt seine Fingerkuppen über das Holz gleiten. Er tut es vorsichtig, denn beim groben Holz muss man aufpassen, dass man sich keine Splitter einfängt. Seine Vorsicht nützt nichts, und dass sich tatsächlich ein kleiner Holzsplitter in seine Haut gräbt, lässt seine innere Stimme leise knurren. Seiner Kehle entweicht derweil kein Laut. Er muss still sein, sonst erwischen sie ihn.
Eigentlich hatte er gar nicht mitmachen wollen beim Versteckspiel. Hätte viel lieber Fußball gespielt, doch die anderen Kinder hatten sich für Versteckspiel entschieden, da konnte er nichts machen. Jetzt hockt er schon seit sehr langer Zeit hinter dem Holzstapel auf dem Gelände der kleinen Schreinerei, das sich unmittelbar neben dem großen alten Haus befindet, in welchem er und seine Familie und einige seiner Freunde wohnen. Schon mehrere Male hat er das aufgeregte Rufen gehört, wenn wieder jemand gefunden wurde. Seitdem er die letzte Stimme vernommen hat, ist jedoch schon viel Zeit verstrichen. Zehn Minuten? Zwanzig? Eine halbe Stunde? Sogar eine ganze? Oder noch mehr? Er weiß es nicht. Jegliches Zeitgefühl ist ihm entglitten, beinahe so, als hätte sich die Zeit aufgelöst in der allmählich kühler werdenden Abendluft.
Könnte es sein, dass er endlich das perfekte Versteck gefunden hat? Er überlegt, was wäre, wenn sie ihn tatsächlich niemals finden würden. Er würde so lange wie möglich ausharren, würde selbst auf Mahlzeiten und Schlaf verzichten, würde vieles in Kauf nehmen für das triumphierende Gefühl, das er bisher nur ansatzweise kennt. Bisher haben sie ihn stets relativ schnell gefunden, und jedes Mal haben sie gelacht, wenn sie seinen Namen gebrüllt haben. Jetzt würde niemand lachen. Sie würden staunen über sein perfektes Versteck. Sie würden ihn bewundern.
Nachdem der Lärm eines lauten Autos, das auf der nahen Straße vorübergefahren ist, verklungen ist, hält er den Atem an und horcht wieder auf Stimmen. Weiterhin ist nichts zu hören. Die Stille fühlt sich seltsam an, sie macht ihm ein wenig Angst. Er fragt sich, ob die anderen Kinder vielleicht bereits ins Haus gegangen sind. Es wäre durchaus möglich, schließlich ist es schon fast dunkel, bestimmt gibt es bald Abendbrot. Doch wenn es so wäre, dass sie heimgehen mussten, hätten sie bestimmt nach ihm gerufen und es ihm mitgeteilt. Auch seine Mutter würde ihn zweifellos rufen, wenn er reinkommen müsste. Aber was ist, wenn sie ihn vergessen haben? Wenn alle ihn vergessen haben? Würde ihn überhaupt jemand vermissen? Würden sie nach ihm suchen? Natürlich würden sie, sagt er sich, zumindest seine Eltern, aber auch seine Freunde, ganz bestimmt. Sie würden sich Sorgen machen, würden laut seinen Namen rufen, würden mit Taschenlampen jeden Winkel ausleuchten. Natürlich würden sie. Doch er hört niemanden. Noch immer nicht. Und solange niemand nach ihm ruft und nach ihm sucht, kann er nicht sicher sein, dass sie es tatsächlich tun werden.
Er könnte einfach aufgeben, könnte aus seinem perfekten Versteck hervortreten, könnte zu den anderen Kindern gehen oder nach Hause. Aber dann hätte er verloren. Das perfekte Versteck hätte ihm gar nichts gebracht, und niemand würde staunen, niemand würde ihn bewundern. Wahrscheinlich würden sie ihm nicht einmal glauben, dass er es gefunden hat, das perfekte Versteck.
Erneut blickt er blickt nach oben. Über dem Holzstapel ist der Himmel dunkelblau, wird gegen den Horizont etwas heller. Ein Flugzeug malt einen langen Strich hin, der Strich dehnt sich immer mehr aus, beginnt am hinteren Ende aber zu bröckeln, zerfällt in Fetzen. Das Flugzeug, es wird irgendwann landen müssen, irgendwo, auf einem Flughafen in einem anderen Land. Selbstverständlich muss es landen, es kann nicht ewig fliegen, das weiss er. Doch was wäre, wenn es das könnte? Wenn es einfach immer weiterfliegen und den Strich unaufhörlich an den Himmel malen würde?
Allmählich wird ihm kalt, er zittert bereits ein wenig, ein paar Sekunden lang klappern sogar die Zähne. Einen Moment lang glaubt er, eine rufende Stimme zu hören, doch da war wohl nichts. Er legt seine Stirn an den Holzstapel, atmet den Geruch ein. Irgendwann muss er hervortreten. Irgendwann muss er sich zeigen. Irgendwann muss alles weitergehen. Doch jetzt will er noch ein wenig hierbleiben, hier in seinem Versteck, seinem perfekten Versteck. Bis ans Ende der Zeit. Oder wenigstens ein paar Minuten noch.

Ein Text aus der Kindheit, der mir jedoch weniger von der Kindheit zu handeln scheint als vielmehr auf symbolische Weise von Trieben und Umtrieben Erwachsener. Die Widersprüchlichkeiten derselben, das gleichzeitige Streben nach Anerkennung durch die Gruppe als auch nach völligem Rückzug aus ihr, mag auf manchen Leser freilich irritierend wirken.
Ist dieses widersprüchliche Streben des kindlichen Protagonisten vielleicht als ein allgemeinmenschliches gedacht?
Eine interessante Frage, finde ich.
(Technische Anmerkung: Der wiederholte explizite Hinweis auf die „anderen Kinder“ wäre m. E. nicht nötig gewesen; aus dem Text ergibt sich das ungefähre Alter des Protagonisten ohne weiteres von selbst.)
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Widersprüche sind ja per se irritierend, und irritierend ist manchmal auch, sich als Erwachsener an die (häufig irritierenden) Gefühle der Kindheit zu erinnern, zu versuchen, sich in ihnen wiederzufinden. Und wie allgemeinmenschlich das erwähnte Streben tatsächlich ist, mag ich nicht zu beurteilen…
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Ja, diese Sehnsucht nach dem perfekten Versteck! Eine toll erzählte Szene, in die man sich richtig hineinfühlen kann. Danke für den Lesegenuss!
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und fürs Hineinfühlen!
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