Irgendjemand sagt, das Leben sei ein Nullsummenspiel, doch irgendjemand irrt sich, findet sie. Natürlich weiß sie es nicht; Gewissheit gibt es erst, wenn sie nicht mehr vonnöten ist. Aber sie glaubt nicht, dass am Ende ihres Lebens eine Null stehen wird. Die Gleichung mag aufgehen, muss wohl aufgehen. Dass aber nichts mehr übrigbleibt, erscheint ihr abwegig.
Sie betrachtet die Jahre, die waren, und die Jahre, die noch bleiben, wiegt sie in ihren Händen, doch die beiden Waagschalen bleiben grobe Skizzen, bleiben lediglich Behauptungen. Nicht nur die Zukunft ist von ungewissem Ausmaß. Auch die Vergangenheit ist eine undefinierbare Größe. Zwar spürt sie, wie das Vergangene schwerer wiegt als das Kommende, aber sie kann höchstens ahnen, ob es an der Anzahl an Stunden und Monaten liegt oder am Ballast, der an ihnen hängt. Wenn sie mit den Schultern zuckt, gleicht sich alles ein wenig aus, also zuckt sie.
Es gab eine Zeit, in welcher jede Zeitrechnung ein negatives Resultat ergab. Womit sie auch rechnete, es lief unter dem Strich stets auf ein Minus hinaus, bisweilen sehr weit unter dem Nullpunkt. Sie hatte sich offensichtlich verkalkuliert, hatte sich verirrt. Die Dunkelheit legte sich wie ein bleischweres Tuch über sie, deckte sie zu, begrub sie unter gefühlten Tonnen. Die Zeit wurde zu einem banalen Konstrukt voller Gleichgültigkeit, in jedem Raum breitete sich eine schweigende Leere aus, und in diesen Räumen voller Nichts lag sie dann und wartete, bis alles vorbei sein würde. Doch mit der Zeit addierten sich vereinzelte Fragmente zu konkreten Größen, wurden greifbar, haltbar, formbar, und sie griff zu, hielt sich fest und formte sich ein neues Dasein. Und seither ist alles, was an Zeit übriggeblieben ist, ein Bonus.
Irgendjemand sagt, das Leben sei ein Nullsummenspiel, doch sie will irgendjemandem einen Strich durch die Rechnung machen, denn sie glaubt, am Ende unter dem Strich im Plus zu sein. Aber natürlich weiß sie es nicht; Gewissheit gibt es erst, wenn sie nicht mehr vonnöten ist.

Ein Text, der zu philosophischen Gedanken anregt!
Ich hätte mir allerdings gewünscht, daß die „konkreten Größen“ im Text etwas mehr konkretisiert worden wären, auch finde ich verwunderlich, daß, wie der Text nahelegt, sich diese quasi von selbst aus aus gewissen „vereinzelte[n] Fragmente[n]“ zusammengesetzt haben sollen, währen die Protagonistin in „Räumen voller Nichts“ (ein wundervolles Oxymoron) einfach nur „wartete“. So bleiben die angeregten Gedanken notwendigerweise gleichsam vage und abstrakt – und der Text, wie auch sein zentraler Begriff des Nullsummenspiels, vielseitig interpretierbar (was freilich ganz im Sinne des Verfassers sein mag).
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Das vielseitige Interpretieren ist nicht nur bei diesem Text ganz im Sinne des Verfassers, ja, und ich freue mich jedes Mal darüber, wie du dich in diesem Interpretationsspielraum bewegst. Und ja, der Begriff «konkrete Grössen» ist vielleicht nicht optimal gewählt…
Vielen Dank für deine Worte!
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