6 cl weißer Rum, 1 TL weißer Rohrzucker, 1 Limette, 6 bis 8 Blatt frische Minze, Sodawasser, Crushed Ice. Sie ist alkoholisch geschult und weiß, dass es sich um die Zutatenliste für einen Mojito handelt, doch warum sie auf der Zahnpastatube geschrieben steht, ist ihr ein Rätsel, wenngleich nur ein mittelgroßes. Ungleich grösser ist das Rätsel, das ihr drei weitere Wörter aufgeben, die direkt im Anschluss an die Zutatenliste zu lesen sind. Du wirst sterben. Die Buchstaben tanzen ein wenig, zwei von ihnen tauschen sogar ihre Position und verändern dadurch auch die Aussage. Du wirst streben. Sie blinzelt, schaut genauer hin. Das Streben wird wieder zum Sterben. Du wirst sterben.
Sie betritt einen Raum. Auf einer Matratze liegt ihre Freundin Lisa, vollkommen unbekleidet, eine dünne Decke verhüllt Hüften und Scham. Ihre Brüste hängen seitlich ein wenig herunter, sehen aber noch immer sehr schön aus; sie hat Lisas Brüste schon immer gemocht, wie auch den ganzen Rest. An die Stelle von Lisas blonden Locken ist eine komplette Glatze getreten, der Kopf sieht merkwürdig aus, beinahe eierförmig. Lisa hat Krebs. Lisa wird sterben. Sie kann sich nicht erinnern, von der Erkrankung erfahren zu haben, doch es fühlt sich so an, als wüsste sie es schon seit langer Zeit, da ist viel Gewohnheit in ihrer Traurigkeit. Lisas Freund Steve sitzt neben der Matratze auf einem Stuhl an einem kleinen Tisch und beginnt zu reden. Er sieht ganz anders aus als sonst, seine Stimme klingt viel höher als gewohnt, nichts an ihm erinnert an Steve, doch es ist Steve, daran besteht kein Zweifel. Steve erzählt von einem Fahrradunfall, von welchem er eine kleine Schürfung davongetragen hat, er zeigt sie, nichts Schlimmes, doch Steve betont, dass der Unfall ihn traumatisiert habe. Dabei schaut er mit leeren Augen ein Loch in den Tisch. Steve heißt eigentlich Stephan, er nennt sich nur Steve, um cool zu wirken, doch er wirkt nicht cool, sondern nur dämlich. Sie hat ihn nie gemocht und nie verstanden, was Lisa an ihm findet. Sie lässt Steve reden und blickt zu Lisa, doch Lisa ist eingeschlafen.
Eigentlich hat sie Angst, unter Wasser die Augen zu öffnen, sie befürchtet, ihre Kontaktlinsen würden herausgeschwemmt werden, und sie braucht die Kontaktlinsen, ohne Kontaktlinsen würde sie sowieso nichts erkennen können, doch jetzt ist es kein Problem, sie sieht alles klar und deutlich; die Wasserpflanzen, die in dünnen Fäden gegen oben streben, die Fische, die in Schwärmen vorüberziehen, ihre Hand vor Augen. Sie taucht weiter, blickt sich um, betrachtet skurril geformte Lebewesen, die sich in fließenden Bewegungen fortbewegen, dann wieder merkwürdige Gebilde, die weder Felsen noch Korallen oder beides zugleich sind. Alles ist fremd hier, auch sie selbst. Obwohl sie nicht den Eindruck hat, dass ihr das Atmen fehlt, will sie allmählich nach oben schwimmen und auftauchen, doch es gibt kein Oben, auch kein Unten, wohin sie sich auch bewegt, sie bleibt unter Wasser, in diesem blaugrünen Universum voller wunderlicher Formen und Geschöpfe. Eines dieser Geschöpfe ist ihr bekannt; es ist Lisa. Schwebend zieht sie an ihr vorüber, wie ein Engel in Zeitlupe. Sie hat wieder Haare, die Brüste sind schön wie eh und je, aber ihre Augen sind geschlossen. Sie ist unfähig, Lisa zu folgen, sieht ihr nach, bis sie nicht mehr zu sehen ist. Wenige Sekunden später taucht eine Art Hai auf, mit schroffen Kanten und breitem Maul. Er nähert sich ihr, zwar nicht sonderlich rasch, aber stetig und unbeirrt. Immer grösser wird der Hai, immer dunkler. Sie will wegschwimmen, will sich verstecken, doch sie hängt fest, seltsame wurmförmige Pflanzen haben sich um ihre Knöchel gewickelt. Während sie erfolglos versucht, sich zu befreien, hat der Hai sie beinahe erreicht.
Dann liegt sie im Bett, in einen erwachenden Morgen blinzelnd, im Kopf der Mojito und die Zahnpasta, das Sterben und das Streben, Lisa und ihre fehlenden Haare, Steve und seine Schürfung, die Wasserpflanzen und der Hai. Es dauert eine Weile, bis sie diese Eindrücke als Traumbilder einzuordnen vermag. Sie ist froh, dass sie sich nicht unter Wasser befindet, sie ist froh, dass Lisa ziemlich sicher nicht an Krebs erkrankt ist, natürlich ist sie froh. Zugleich ist da ein bitterer Geschmack in ihrem Mund. Vielleicht hat der imaginäre Mojito eine olfaktorische Täuschung ausgelöst. Doch sie ist ziemlich sicher, dass es nicht am Mojito liegt.

Die Traumbilder sind, wie ich finde, sehr eindringlich geschildert! Die rätselhafte Logik zieht den Leser in ihren Bann. Einzig das Ende hätte, finde ich, vielleicht noch ein bißchen rätselhafter ausfallen dürfen!
LikeGefällt 1 Person
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte! Freut mich sehr…
LikeGefällt 1 Person