Er weiß nicht, wann genau ein Mann zu einem alten Mann wird, doch er weiß, dass dieser Moment weit hinter ihm liegt. Seine Hände sind von Flecken übersät, und manchmal, wenn er sie zu Fäusten ballt, werden sie von unsichtbaren Messern durchbohrt. Ansonsten ist er gesund. Das Wort rüstig findet er furchtbar.
Wenn er sie ansieht, diese Frau seines Lebens, versucht er, die vergangenen Jahrzehnte zu erkennen, doch meistens schreit ihm die Gegenwart zu laut ins Gesicht. Manchmal wird er wütend und deckt sie mit zornigen Worten ein. Sie erwidert nichts, starrt ihn lediglich an, als hätte sie ihn nicht verstanden. Schließlich zuckt sie mit ihren Schultern und redet wirre Dinge. Irgendwann steht er auf und geht auf den Balkon, zündet sich eine Zigarette an, obwohl er vor zwanzig Jahren mit dem Rauchen aufgehört hat. Dann betrachtet er abwechselnd die Rauchschwaden und seine fleckigen Hände.
Sein Wortschatz ist beeindruckend, seine Sprache ist dynamisch und elegant, er vermag jede Situation in präzise Begriffe zu hüllen, nur mit der Liebe weiß er nichts anzufangen, das Wort blieb ihm stets ein Fremdkörper auf der Zunge, zumindest bisher. In der jüngeren Vergangenheit jedoch schien sich ihm die Bedeutung dieser fünf Buchstaben allmählich zu eröffnen. Einmal betrachtete er seine Tochter, wie sie ihren kleinen Sohn stillte, und hatte Tränen in den Augen.
Unzählige Male hätte er zu seiner Frau von Liebe sprechen können, doch seine Kehle war zu trocken, selbst wenn er trank. Er konnte das Wort nicht sagen, vielleicht aus Angst, es falsch zu betonen oder sich zu verhaspeln. Nun, endlich, könnte er laut und deutlich davon künden, könnte fehlerfrei artikulieren und wüsste wenigstens ansatzweise, wovon er spräche. Aber wie er sie so ansieht, stockt sein Atem; er beobachtet, wie ihre Augen sich zu Schlitzen verengen und die Lider hin und wieder zittern. Er registriert ihre Lippen, die immer dünner werden. Langsam öffnet er den Mund, um etwas zu sagen. Doch seine Stimme bleibt stumm, wie immer, aber aus anderen Gründen, der Mund bleibt offen, wie in größtem Erstaunen. Irgendwann klappt er ihn zu, zieht die Nase hoch und geht wieder auf den Balkon. Er mustert die Topfpflanzen am Geländer, lässt einige trockene Blätter durch seine Fingerkuppen gleiten und zündet sich eine Zigarette an. Während er den Rauch in die Kühle des Abends entweichen lässt, denkt er darüber nach, ob sich ein Balkon eigentlich innerhalb oder außerhalb einer Wohnung befindet. Er blickt auf die Glastür, die seinen Körper als dunkle Form reflektiert, und ist froh, dass er seine Gesichtszüge nicht erkennen kann.

Hier habe ich wohl eine Schatzkiste gefunden. Wundervollstes Schreiben!
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Vielen lieben Dank fürs Finden und Lesen und für die Worte!
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Manchen fällt es schwer, das Wort Liebe auszusprechen, weil sie die wahre Bedeutung der Liebe kennen, glauben aber, für andere sei es nur eine Floskel.
Er spricht es nicht aus, eben weil er sie liebt.
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Es zu tun, ist im Zweifelsfalle vielleicht sowieso wertvoller, als darüber und davon zu sprechen… Lieben Dank fürs Lesen und für deine Gedanken…
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Hat dies auf Das wars. rebloggt und kommentierte:
Gefällt mir sehr. Schöne Worte.
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Lieben Dank fürs Lesen und Rebloggen!
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Hat dies auf fraumamaschreibt rebloggt und kommentierte:
Gedanken einer langen Liebe.
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Danke fürs Lesen und Rebloggen!
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Männer und ihre Gefühle bzw. deren Verdrängung. Auf den Punkt gebracht und einmal mehr faszinierend.
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Und einmal mehr sind mir deine Worte eine grosse Freude. Vielen Dank dafür!
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Hat Spaß gemacht zu Lesen!!!
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Das freut mich; danke dafür und für die Worte…
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Letzten Endes ist es eigentlich egal, ob er zu ihr den berühmten Satz sagt oder nicht, Hauptsache, sie SPÜRT seine Liebe…
Altern ist der normalste Lebensvorgang überhaupt und der einzige, der uns ALLEN tagtäglich passiert…
…ein beeindruckendes menschliches Stillleben, das du durch deine Worte geschaffen hast, lieber Schreibfreund…
Herzliche Grüße an dich
vom Finbar
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Ja, vielleicht ist es egal, wenn man das Wort nicht sagt, aber was ist, wenn man es wohl sagen könnte, es aber nicht mehr spürbar ist? Und ja, dem Altern (und der Folge davon) entgeht keiner von uns, was auch gut so sein dürfte…
Vielen Dank fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar, und herzliche Grüsse zurück…
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Das passiert nur leider viel zu oft, lieber Disputnik…
Du weißt ja längst, dass die Sache mit der Liebe die schwierigste und komplexeste ist, hier auf Erden, mit einer Palette an Facetten, die von hier bis jenseits des Weltenäquators reicht…
Herzliche Grüße vom Finbar
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Ja, die Facetten sind vielfältig und voller Farben, und manchmal droht es einem beinah zu bunt zu werden, doch ein Leben in Schwarz-Weiss ist dann eben doch keine angenehmere Alternative… Liebe Grüsse zurück…
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poetisch, nachdenklich machend, ich habe deine Geschichte gerne gelesen
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Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Eine Geschichte (wie) aus dem Leben. Die Erkenntnis des „Alterns“, diese, dass die Zeit einfach so verronnen ist und in der man nachdenkt, was war und was noch kommen wird. Eine gewisse Rauheit und doch die Melancholie darin – ich danke Dir dafür – sie ist ganz nach meinem Geschmack.
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Das freut mich sehr, dass die Worte und die Dinge dahinter deinen Geschmack treffen… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken!
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