Sie greift an den Hals der Violine, ertastet die Saiten und das schmale Griffbrett, lässt die Fingerkuppen über das glatte Holz des Korpus gleiten. Noch immer, nach all den Jahren, hat sie den Eindruck, die Violine sei ein lebendes Geschöpf, ein Wesen, das atmet und empfindet und reagiert.
Sie steht in der Mitte ihres Wohnzimmers, die nackten Füße machen den lauwarmen Parkettboden spürbar. Sie atmet den Duft der Violine ein, schiebt die Haare in den Nacken und klemmt sich das Instrument unter das Kinn.
Als sie die Augen schließt und den ersten Ton spielt, steht sie wieder auf der Bühne. Sie ist zwanzig Jahre jünger, voller Hunger und Zuversicht. Das Publikum, es ist stumm und aufmerksam; sie alle teilen diesen Moment mit ihr und schaffen gemeinsam eine eigene kleine Welt, hermetisch abgegrenzt vom konfusen Rest.
Scheinbar mühelos treibt sie die Melodie voran, lässt die Töne atmen, verleiht ihnen die notwendige Dynamik. Sie spürt, wie die verschiedenen Wellen und Schwingungen sie an unterschiedlichen Stellen ihres Körpers berühren. Die feinen Härchen an ihrem Unterarm richten sich auf.
Sie steigert das Tempo und drosselt es wieder, beschleunigt erneut. Sie weiß, wie wichtig dieser Moment ist, wie viel er bedeutet. Sie spielt längst nicht nur für diesen Augenblick. Sie spielt um ihr Leben. Natürlich muss es mehr geben als das, mehr als diese Bühne, mehr als diesen Auftritt. Doch alles bleibt außen vor. Alles bleibt banal.
Nach dem letzten Ton atmet sie einige Sekunden lang ein und aus. Dann öffnet sie die Augen. Und blickt wieder an die kahle Wand ihres Wohnzimmers, an dieses cremefarbene Nichts. Sie lässt die Arme sinken, beißt leicht auf die Unterlippe. Dann lässt sie die Violine an die Wand knallen, mit voller Wucht und unbändiger Kraft, immer wieder, bis nur noch ein Stück des Halses und die Schnecke in ihrer Hand verbleiben. Die Saiten hängen leise zitternd in der Schwebe. Schließlich lässt sie die Überreste ihrer Violine zu Boden fallen. Alles wird stumm, alles wird still. Aber es ist nicht zu Ende, bevor es nicht vorbei ist.

Im Gewühle der Gefühle
liegt nie Vernunft
und kaum mal Sinn …
auch wenn man/frau sich später vor Ärger über sich selbst schier die Nase abbeißen könnte 🙂
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Es kann aber auch etwas Reinigendes haben, einfach mal irgendwo zu explodieren. Möglichst ohne wertvolle Menschen oder Dinge als Katalysator der Wut zu benützen.
Ich stelle mir gerade vor, wie viele Menschen eigentlich ohne Nasen herumlaufen müssten… aber zum Glück kommt man da so schlecht dran. Auch der herzhafte Biss in die oft zitierte Kehrseite stellt eine Herausforderung an die Beweglichkeit dar. Schade, vielleicht gäbe es sonst weniger…A….ö…aber das führte jetzt entschieden zu weit hier…sei lieb gegrüßt, Herr Disputnik auch…✨
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Manchmal, ja, braucht’s wohl einfach ein Ventil – nach Möglichkeit ein passendes, ungefährliches –, um den Druck entweichen zu lassen. Zum Glück gibt’s noch andere Möglichkeiten als das Beissen in Körperteile oder das Zertrümmern von schönen Dingen…
Herzliche Grüsse zurück…
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*lach*,das Explodieren kann eine Befreiung sein
Und sich frei zu fühlen,ist eine wundervolle Sache,
liebe Fee,das wissen wir alle…
Aber ich würde immer das schon angeschlagene Geschirr an die Wand pfeffern 😊
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Jaha, im Gewühl der Gefühle (wunderbarer Ausdruck) kommt das Rationale rasch abhanden… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Diese Formulierung drängte sich mir geradezu auf,lieber
Disputnik
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Daaaas tut weeeh, lieber Disputnik, ich liiiiiiiebe Musikinstrumente!
Ich könnte das nie, was die Heldin deiner Kurzgeschichte macht!
Denn es würde mir das Herz brechen, Exitus!!
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Ja, lieber Finbar, Musikinstrumente sind wunderbar, aber sie sind eben auch wehrlos. Und ohnmächtige Wut hat eine nicht zu unterschätzende Kraft…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und herzliche Grüsse…
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Oh jaaaaaa, wenn sie sich entlädt, dann bleibt kein Auge trocken!!
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…und manches Wunderwerk geht zu Bruch… Herzliche Grüsse, lieber Finbar…
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Ja, lieber Disputnik, hoffentlich war’s keine Amati oder Stradivarius…
da wäre mit Ohnmacht und Wut sicherlich der Verkauf sinnvoller gewesen!
Hab einen schönen Tag, Finbar
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Sinnvoller auf jeden Fall, auch wenn’s nur eine halbgute Violine gewesen wär. Aber mitunter kann der Sinn im Getöse verlorengehen…
Dir ebenfalls einen schönen Tag, lieber Finbar, und herzliche Grüsse…
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Ohnmacht innig intensiv zu spüren, das ist wie ein Vulkan kurz vor der Explosion, der reine Wahnsinn!
Das wünsche ich dir auch, lieber Schreibfreund!
Herzliche Oktobergrüße vom Finbar
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Noch einmal da capo
Adorabile grandezza
der ganze Zauber
Finalmente
Ende…
Das ist eine der heftigsten Loslassungen, die mir je schriftlich untergekommen sind.
Kennst Du den?:
Ein Mensch in seinem ersten Zorn
wirft schnell die Flinte in das Korn.
Und als ihm dann der Zorn verfliegt,
die Flinte wohl im Korne liegt.
Der Mensch bedarf dann mancher Finte,
Zu kriegen eine neue Flinte.
(Eugen Roth)
In diesem Fall eine neue Geige und irgendwie wünsche ich mir, dass die Virtuosin nur im zeitweisen Trostlos allürt, denn das wäre nur allzu menschlich und es wäre schade, hörte niemand mehr ihr schönes Spiel.
Liebe Grüße von der Karfunkelfee ✨
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«…dass die Virtuosin nur im zeitweisen Trostlos allürt…»; wie schön in Worte gekleidet, dieser Wunsch. Vielleicht wirft sie noch manche Geigen ins Korn, bevor ihr Zorn gebannt ist. Vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls herzliche Dank dir, dass du ihr zugehört und gelesen hast…
Liebe Grüsse!
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