Man sieht ihn häufig im Quartier, manche kennen ihn von früher, denn er war schon damals hier, wohnte irgendwo um die Ecke, und als die anderen in die weite Welt zogen, blieb er vor Ort, ließ die Zeit durch sein Leben laufen, ohne aufzufallen. Nach seiner Schulzeit begann er ein Studium, brache es aber bald wieder ab, und schließlich wurde er, was er noch heute ist, nämlich Müllmann.
Er weiß, dass dieser Berufszweig keine sogenannten Entwicklungschancen oder Karriereperspektiven bietet, doch es kümmert ihn nicht. Er ist durchaus zufrieden mit seiner Tätigkeit, jedenfalls nicht weniger zufrieden als die Banker mit ihren engen Krawatten oder die Lokomotivführer in den Zügen, die in weite Ferne fahren. Der Müllmann macht seine Arbeit, und er macht sie gern, zumindest in der Regel. Er nimmt seine Aufgaben ernst und verspürt ein gewisses Berufsethos, auch ein wenig Stolz, obschon er weiß, dass ihn kaum jemand um seine Arbeit beneiden dürfte. Manchmal steht er auf dem Trittbrett des Müllwagens, hört das kernige Knurren des Motors, spürt den Fahrtwind und genießt seine Gewissheit, etwas Wichtiges und Wertvolles zu tun.
Wenn die Leute, die nichts über ihn wissen, ihn fragen, was er beruflich mache, druckst er nicht beschämt herum, sondern antwortet offen und selbstsicher, seine Entschiedenheit wirkt nahezu arrogant. Manche glauben ihm zunächst nicht, denn mit seiner Eloquenz und seinem großen Allgemeinwissen entspricht er wohl nicht dem gängigen Bild eines Müllmanns, doch er überzeugt sie schnell, er überzeugt sie alle. Meistens erzählt der Müllmann einige Anekdoten aus seinem Arbeitsalltag, und er erzählt sie gut, mit ruhiger Stimme und perfekt gesetzten Betonungen, Auslassungen und Pausen. Man hört ihm gerne zu, seine Geschichten sind zumeist fesselnd, und häufig fragen die Leute nach, wollen mehr erfahren. Dann entsteht ein Gespräch, manchmal tief, manchmal breit, manchmal belanglos, aber niemals langweilig.
An ihrem Müll erkenne man die Menschen, weiß der Müllmann. Du bist, was du wegwirfst. Die Gewissenhaften entsorgen ihre Abfälle mit großer Sorgsamkeit, trennen Glas und Kompostierbares, halten sich an die grundsätzlichen Regeln. In gewissen Quartieren sehe es aber ganz anders aus, erklärt der Müllmann. Vor allem dort, wo die Ausländer wohnen. Bei denen sei es ganz schlimm, findet er. Alles stinkt, man wirft einfach alles in die Tonne, von Essensresten über Bierflaschen bis zu Autobatterien. Er erzählt Geschichten über haarsträubende Begebenheiten, über unhaltbare Zustände, wie er findet, und obschon seine Stimme dabei ruhig bleibt, verändert sich die Stimmfarbe. Einmal habe er sogar ein Ziegenbein gefunden, erinnert sich der Müllmann. Nein, bei den Ausländern sei es ganz furchtbar. Er sei ja kein Rassist, aber, und man kennt das ja; wer sagt, er sei ja kein Rassist, aber, der ist zumeist doch einer, vielleicht nur ein kleiner, nur ein geringfügiger Rassist, aber eben. Der Müllmann sagt, ohne die Ausländer wäre sein Job deutlich besser und schöner, und man zuckt dann mit den Schultern, weil man nicht weiß, was man darauf erwidern soll.
Einer seiner Vorgänger habe einst einen toten Säugling in der Mülltonne gefunden, erzählt der Müllmann. Und beinahe klingt es, als würde er es bedauern, dass nicht er, der Müllmann, die kleine Leiche entdeckt hat. Es wäre eine weitere Geschichte gewesen.

Ein wundervolles kleines Kind in einer Mülltonne,
eine Vorstellung, bei der es mir durch Mark und Bein fährt!
Zu was erwachsene Menschen alles fähig sind…
Unglaublich!
Die Gesellschaft durch die Augen eines selbstbewussten Müllmanns zu sehen,
es interessante Perspektive, lieber Disputnik, danke dafür!
Liebe Oktobergrüße vom Finbar
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Mich irritierte der Zwiespalt; einerseits das eigentlich Kluge und Belesene, ja, auch Selbstbewusste, jedenfalls gar nicht zum Klischee Passende; und andererseits dieser latente Rassismus…
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar, und herbstliche Grüsse zurück!
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Nun ja, er stellt eben gewisse Unterschiede der Menschen bei der Müllentsorgung fest, die es sicherlich gibt, und zieht aber daraus induktiv Schlüsse, die wahrscheinlich gar nicht stimmen…
Vermutlich gibt’s mehr kluge Müllmänner, als man so meint…
Hier im Ländle gibt es neuerdings sogar Frauen, die diesen wichtigen Beruf ausüben!
Hab einen schönen Tag!
Liebe Morgengrüße vom Finbar
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Ich glaube, es gibt tatsächlich mehr kluge Müllmänner (und Menschen im Allgemeinen), als man so meint. Aber ich glaube, es gibt auch mehr unkluge Menschen (und Müllmänner), als es uns guttut…
Schönes Wochenende dir, lieber Finbar…
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Mit Sicherheit, lieber Schreibfreund!
Hab ich dir eigentlich schon zu deinem neusten Preis gratuliert?
Falls nicht, dann nachträglich noch herzliche Gratulation!
Save your day, Finbar
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Du hattest schon längst gratuliert, mein lieber Schreibfreund, aber umso mehr nochmals herzlichen Dank! Dir ebenso einen schönen Tag und ein wundervolles Wochenende…
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