Da war jener Junge, vielleicht ein Jahr jünger als man selbst, und aus längst vergessenen Gründen geriet man aneinander. Es entwickelte sich ein kindlich-unbeholfener Disput, und irgendwann, wohl als Ersatz für ein fehlendes Argument, spuckte der Junge. Man wischte sich den fremden Speichel aus dem Gesicht, wehrte sich gegen einen plötzlich auftretenden Brechreiz und taumelte innerlich zwischen Wut und Scham. Man war schon damals nicht sonderlich schlagfreudig und sah von einer physischen Reaktion weitgehend ab, stieß den Jungen lediglich zur Seite und ging fluchend und zugleich konsterniert nach Hause. Eigentlich war nichts Besonderes geschehen. Dennoch erinnert man sich auch drei Jahrzehnte später noch an jene Begebenheit. Und mitunter wünscht man sich eine Möglichkeit, um zurückkehren zu können zum besagten Moment. Und dem Jungen die Faust ins Gesicht zu schlagen.
Da ist dieser ungemein düstere und qualvolle Film. Les 7 jours du talion. Es geht darin um einen Vater, dessen kleine Tochter brutal vergewaltigt und ermordet wird. Der Vater entführt den mutmaßlichen Täter und sperrt ihn in eine verlassene Hütte im Wald. Dort foltert er den Mann, tagelang, mit grenzenloser Wut und unbändiger Grausamkeit. Irgendwann spürt ihn die Polizei auf, und nach der Festnahme fragt ein Reporter den Vater, ob er glaube, Rache sei richtig. Nein, antwortet der Vater. Dann will der Reporter von ihm wissen, ob er folglich bereue, was er getan habe. Nein.
Die Weltgeschichte wie auch die Literatur sind nahezu überfüllt mit Episoden über fürchterliche Taten, denen den Drang nach Rache als Motor diente. Ungleich seltener jedoch stellte sich nach dem vermeintlichen Stillen des Rachedurstes ein Gefühl der Zufriedenheit oder Genugtuung ein. Vielleicht lässt sich bei Rache einfach kein rationaler Maßstab ansetzen, vielleicht steckt kein substanzieller Sinn darin. Vielleicht ist Rache einer jener kaum besiegbaren Instinkte, eine nur schwer zu kontrollierende Emotion. Ein unbeherrschbarer, aber wohl auch sehr menschlicher Reflex.
Hin und wieder fragt man sich, wie man selbst reagieren würde, wenn man sich in einer ähnlichen Situation wiederfinden müsste wie der Vater im Film. Und bisweilen überlegt man, ob man dem spuckenden Jungen bei einer Wiederholung jener Begegnung tatsächlich ins Gesicht schlagen würde. Und ob das die scheinbar so tiefe Kerbe in der Erinnerungswelt wirklich tilgen könnte.

Notwehr im Affekt ist euohorisierend, befreit und ist angenehm für den Cortisolspiegel.
Aber langsam weichgekochte Rache bringt glaub ich gar nix.
Als cineastische Aufarbeitung des Themas, mit jüdischem Humor und Abgründigkeit, empfehle ich die großen, bösen Wölfe, einer Rudel harter Hunde, die butterweich werden, wenn die Mamme anruft:
https://en.wikipedia.org/wiki/Big_Bad_Wolves
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Oh, der Film kannte ich nicht; klingt interessant und spannend, vielen lieben Dank für den Tipp! Und fürs Lesen und für deine Worte ebenso. Herzliche Grüsse…
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Bitte gern geschehen. Das war so eine kleine Perle auf dem Fantasy Film Festival vor ein paar Jahren. Eine ungewöhnliche Stimmung, die wir in Europa nicht so kennen. Sehr wenig nachdenklich. Dafür immer erregbar, aggressiv, dabei auch lebensfroh. Schmerzen erleiden und sich keine Zeit für Reue geben. Auf dem Vulkan tanzen. Israel.
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Wunderbar eingefangen, die Stimmung, dieser Tanz auf dem Vulkan. Danke auch dafür.
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Die Demütigung fremdverächtlicher Spucke im Gesicht ist für ein Kind noch unerträglich. Der Erwachsene hingegen relativiert. Rache ist nur so lange ein Thema, solange die Wut keinen anderen Weg hinausfinden kann. Zu oft Angespuckte putzen sich das ekle fremde Zeug mit routinierter Gebärde von der Backe und gehen ruhig weiter.
Schönes Wochenende und Dank für den feinen Text.
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Gibt aber leider wohl doch einige Erwachsene, die nicht viel vom Relativieren halten…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, für deine Gedanken und Worte. Dir ebenfalls ein schönes Wochenende!
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Ich kenne diesen Film nicht, den du zitierst, lieber Disputnik, absolut furchtbar, was du darüber schreibst!
Mir langte schon, als ich das erste Mal „les quatre cents coups“ von Truffaut sah, mit dem berühmten Jean-Pierre Léaud als kleiner Junge in seiner allerersten Rolle…
Rache kann eine überirdische Kraft entwickeln,
und vernichtend sein, ohne Ende!
Liebe Oktobergrüße vom Finbar
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Truffauts Film sollte ich mal wieder schauen, ist schon Jahrzehnte her… Der andere, die 7 jours du talion, der ist jedenfalls nichts zum Immerwiederschauen… ziemlich niederschmetternd…
Ja, Rache kann wohl vernichtende Kräfte entwickeln, zumeist, ohne irgendetwas auszugleichen…
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar, und herzliche Oktobergrüsse zurück…
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Truffauts Filme sind für die Ewigkeit!
Diese Szenen hier zum Beispiel:
https://finbarsgift.wordpress.com/2014/01/16/les-400-coups-scene-finale-truffaut/
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Sehr schön!
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