Es wird brechen, das Eis, daran besteht kaum ein Zweifel. Noch trägt es, und solange sie sich nicht bewegt, kann sie diesen Moment der Sicherheit noch ausdehnen, kann ihn in die Länge oder vielmehr in die Breite ziehen. Aber irgendwann muss sie sich bewegen. Ohne Bewegung gibt es kein Weiterkommen. Wer sich nicht bewegt, ist tot.
Das erste Knacken ist so laut wie das Geräusch eines brechenden Knochens, wie es in jenem bittersüßen Moment in der Luft hängt, bevor der Schmerz eintritt. Manchmal ist ein Wendepunkt gar kein Punkt, sondern eine kleine, fragile Fläche. Es ändert nichts daran, dass es kein Zurück mehr geben kann.
Das Hadern drängt sich auf. Sie hätte das Eis gar nicht erst betreten sollen, es bestand dazu keinerlei Notwendigkeit, es hätte nicht einmal eine Abkürzung des Weges zur Folge gehabt. Sie hätte auf den befestigten Pfaden bleiben können, und nichts wäre geschehen. Sie hätte Vernunft walten lassen sollen. Doch solche Konjunktivsätze verhungern in der Realität. Die sinnlose Reue wirkt nahezu lächerlich in der eisigen Luft dieses farblosen Tages.
Sie verlagert ihr Gewicht, schiebt es von einem Fuß zum anderen. Ein weiteres Knacken ertönt, etwas leiser als zuvor; wie das Bersten eines Weinglases beim verärgerten Hinstellen nach einem unnötigen Streit; wie das Brechen des Herzens beim ersten schulderfüllten Blick des Gegenübers; wie das Zersplittern von Erinnerungsbrocken im Kopf. Sie hält den Atem an und wartet.
Nach Sekunden oder Stunden macht sie einen Schritt nach vorne, vorsichtig, mit weichen Knien. Als nichts passiert und nichts knirscht, verspürt sie die kleine Pflanze Hoffnung in sich aufkeimen. Es könnte gut ausgehen, glimpflich. Doch der nächste Schritt lässt die schüchtern wachsende Pflanze bereits wieder verkümmern. Ein weiteres Knacken drängt in die Stille über dem See, lauter als zuvor. Sie sieht Wasser über das Eis wandern. Glimpflich ist vorbei.
Sie sieht sich um, ihre Augen rufen nach Hilfe, doch es ist niemand da; die sieben Milliarden sind überall, nur nicht hier. Es ist einsam, unerträglich einsam auf dem Eis. Ihre Beine zittern, ihre Muskeln verhärten sich immer mehr. Sie versucht erneut, sich nicht zu bewegen, doch ohne Bewegung gibt es kein Weiterkommen. Schließlich spürt sie, wie das Eis nachgibt. Bevor das kalte Wasser sie umfließt und umschließt, ist sie einen kurzen Moment lang froh, dass sie die Kontrolle abgeben kann. Dass sie bewegt wird. Und dass es weitergeht.

Wer sich aufs Eis begibt, sollte dies auf keinen Fall tun, wenn es jemand ist, der nicht weiß, wie er seinen Körper bewegen muss, sein Gewicht und die Körperspannung einstzen muss, um leichten Schrittes über die Fläche zu gelangen. Eiserprobte kennen diese Techniken, doch sie müssen sie kennen, sie wurden im Eis geboren und leben von dem, was sie darin und darauf finden.
Ohne einen wirklich triftigen oder gar lebenswichtigen Grund sollte sich besser niemand auf unsicheres Eis wagen.
Für wen es jedoch solche Gründe gibt, vielleicht weil Hunger quält, vielleicht weil ein Anliegen drückt, der sollte nicht ohne einen Kompass, Führer oder Ortskundige losziehen. Und sollte sich fit wie eine Feder machen.
Bricht der Mensch dennoch ein, darf er die Verantwortung solange an höhere Mächte delegieren, wie er ihnen noch ausgeliefert ist. Und genug Wodka dabei haben. Und eine trockene Wolldecke. Wechselwäsche. Mir fällt garantiert noch mehr ein.
Packend hast Du das Dilemma in Details aufgesplittert. Die Verzweiflung wird sehr nachfühlbar…
Liebe Grüße
Amélie
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Ja, Eiserprobte dürften sich auf dem Eis sicherer fühlen, doch sie würden an anderen Orten Schwäche zeigen, verletzlich und angreifbar sein. Manchmal geben wir unseren Entscheidungen vielleicht zu wenig Gedankenzeit und landen auf einem Terrain, das wir nicht mehr schadlos verlassen können. Das Einbrechen muss man dann wohl annehmen. Aber ja, Wodka kann helfen..
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine wie immer wunderbar bereichernden Worte…
Herzliche Grüsse zurück…
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Mein Fahrlehrer Kownatke hat mir mal in einer Fahrstunde gesagt:“Nun bin ich bereits seit vierzig Jahren Fahrlehrer und ich habe jede Menge Fahrerfahrung. Kannst Du Dir vorstellen, dass ich alle zwei Wochen eine Situation im Straßenverkehr erlebe, die ich so noch nie zuvor erlebte und die mir all mein Fahrlehrerwissen sowie all meine Improvisationskünste abverlangt?“ Damals konnte ich mir das durchaus schon vorstellen, doch heute weiß ich das sicher und auch, dass diese Erfahrung für das Leben gilt. Und manchmal geschieht etwas und wenn die Bremsen mal wieder blockieren empfiehlt es sich, sich steif wie Brokkoli zu machen und in was möglichst Billiges reinzufahren…;-)
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Der Brokkoliratschlag ist ein guter, dann geht’s vielleicht doch glimpflicher aus als befürchtet… Danke dir! Und herzliche Grüsse…
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