Draußen heulen die Wölfe. Sie bohrt in der Nase. Nicht zwanghaft, eher beiläufig. Zwanghaftes Nasenbohren wird als Rhinotillexomanie bezeichnet, ein suchtartiges Verhalten mit Krankheitswert, zumindest sagte das einst ihr Onkel, und ihr Onkel musste es wissen, schließlich war er Psychiater. Sie hat keine Ahnung, warum sie sich noch an den Begriff Rhinotillexomanie erinnert, er ist nicht sonderlich einprägsam, eigentlich ziemlich umständlich. Dennoch hat er sich in ihrem Gedächtnis eingenistet, und sie vermutet, dass er ein anderes Wort verdrängt hat, ein wichtigeres Wort. Doch sie weiß nicht, welches Wort es sein könnte. Was nun?
Draußen heulen die Wölfe. Sie kann das Verhalten der Tiere nachvollziehen. Es ist dunkel, wo sie sind, es ist kalt, der Winterwind weht über erfrorene Landschaften. Müsste sie im Freien sein, würde sie auch heulen. Aber sie ist drinnen, hinter Mauern, hinter Glas, unter Ziegeln. Sie steht vor dem Badezimmerspiegel und schaut zu, wie eine Frau eine Strähne aus dem Gesicht streicht. Die Frau zeigt ihr ein gefälschtes Lächeln. Die Strähne fällt wieder zurück ins Gesicht, und das Lächeln zerfällt. Was nun?
Draußen heulen die Wölfe. In der Legende ist der Wolf ein Einzelgänger, ein stolzer Kämpfer, wild und frei. Doch in der Realität braucht der Wolf das Rudel, braucht die Struktur, braucht die Vielzahl, die zur Einheit wird, damit jedes einzelne Tier sicher und geschützt ist. Sie ist die Wölfin der Legende, wenngleich ohne den Stolz, ohne das Wilde und nur mit einer zweifelhaften Version von Freiheit. So oft glaubte sie bereits, die große Liebe gefunden zu haben, und dann war es jeweils doch nur eine Erkältung. So oft wagte sie sich hoffnungsfroh und unbedarft auf unbekanntes Terrain, um dann doch nur vor der irritierenden Fremdheit zurückzuweichen. So oft schuf sie schon einen freien Raum in ihrem Innern, der am Ende doch nur mit Leere gefüllt wurde. Was nun?
Draußen heulen die Wölfe. Sie kennt den Ruf, hat ihn schon häufig gehört, und jedes Mal bringt die Frequenz etwas in ihr zum Schwingen, zum Vibrieren, jedenfalls zittert sie, zumindest fühlt sich ihr Körper zitternd an. Sie ist nicht sicher, ob sie Sehnsucht oder Angst verspürt, ob sie sich angezogen oder abgestoßen fühlt, ob das Heulen alarmierend oder animierend ist. Sie weiß zwar, wo sie steht, nämlich im Badezimmer, vor dem Spiegelschrank, gegenüber der Frau mit der Strähne im Gesicht, aber sie weiß nicht, was das bedeutet, sie weiß nicht, ob es richtig ist oder nicht. Sie blinzelt einige Male und streicht sich selbst eine Strähne aus dem Gesicht. Die Frau im Spiegel bleibt regungslos. Was nun?
Draußen heulen die Wölfe. Eigentlich sind es nur mögliche Wölfe. Es könnten Wölfe sein, es wäre denkbar, dass es Wölfe sind, ein nahes Rudel, zu dem sie sich zugehörig fühlen könnte, als Wölfin. Doch in Wahrheit sind es keine Wölfe. In Wahrheit sind die Wölfe nur Hunde. Alte, traurige Hunde. Was nun?

Die Frau erkennt vielleicht irgendwann, dass sie Fleisch auf die Seele braucht und ein Fell. Damit sie frei und wild sein könnte. Sie könnte ihr Skelett nehmen, nach draußen tragen und die Knochen solange bei Vollmond ansingen bis das Wunder geschehen kann und wieder Fleisch und Fell auf den blanken Knochen wachsen kann. Sie muss singen, jede Nacht, unermüdlich solange bis das Wunder geschehen kann. Und dann hört sie die anderen, die anderen hören sie. Sie singt, weil sie Kraft braucht und weil singen kräftig macht. Sie frisst was sie Nahrhaftes findet, alles was ihren Gesang stärker machen kann und gräbt am Tag sogar nach Würmern. Sie stellt keine Ansprüche. Zwar ist sie eine Einzelgängerin, doch das ist nun einmal ihr Wesen, das nach Unabhängigkeit, nach Freiheit strebt. Und beim nächsten Blick in den Spiegel ist ihr Lächeln echt, denn sie fand andere Wölfe und viele ohne Fell und Fleisch – so, wie sie selbst.
Liebe vorweihnachtliche Grüße von Amélie 🎄✨🧚♀️
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Ein wunderschönes Vorweihnachtsgeschenk ist er, dein Text an dieser Stelle. Vielen lieben Dank dir fürs wunderbare Weiterspinnen des wölfischen Fadens, und ja, wenn das Heulen zum Singen wird, kann wohl viel Gutes geschehen… Herzliche Grüsse zurück!
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