Ankündigung
Am Samstag, 8. Januar, wird bei der mächtigen Ulme auf dem großen Feld am Dorfrand etwas Außergewöhnliches geschehen. Jede Person, die teilnimmt, wird fürstlich belohnt werden und unermesslichen Reichtum nach Hause nehmen.
Mehr wird nicht verraten.
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Die kleine Karte, die eines Tages in den Briefkästen aller Haushalte des Dorfes lag, wirkte reichlich unscheinbar. Sie enthielt keine Bilder, kein Logo, auch keinen Hinweis auf die Absenderin oder den Absender, sondern nur ein paar Worte. Doch als die Leute diese Worte lasen, lösten sie etwas in ihnen aus.
Es war nicht die einfachste Zeit, in der sie gerade steckten, viele hatten Entbehrungen in Kauf nehmen müssen, und beim Blick in die Zukunft wurde es manchen ziemlich unwohl; vereinzelten wurde es sogar schwindlig, und sie mussten sich an einer Stuhllehne oder einem Türgriff festhalten, um nicht hinzufallen. In Anbetracht dieser Unsicherheit war die Aussicht auf unermesslichen Reichtum durchaus reizvoll.
Natürlich fanden viele das Inserat zu Beginn lächerlich. «Das hat irgendein Spinner gemacht», sagte Hugo zu seiner Frau, und seine Frau nickte, denn Hugo hatte immer recht, fand sie, ohne jemals zu hinterfragen, ob es tatsächlich so war. Auch die alte Lisbeth zuckte beim Lesen lediglich mit den Schultern und fand, dass man den Leuten lieber ein Sudoku zusenden sollte als solche sinnlosen Karten. Lisbeth liebte Sudokus fast so sehr, wie sie Erwin geliebt hatte, ihren Mann, und seitdem er nicht mehr lebte, schlug ihr Herz nur noch für die besagten Zahlenrätsel. Hanspeter glaubte derweil, dass es sich bei der Karte um den fiesen Trick einer geheimen Organisation handelte, die auf diese Weise Unruhe in der Bevölkerung stiften wollte, um dann im unvermeidlichen Chaos die Weltherrschaft oder zumindest die Dorfherrschaft an sich zu reißen. Michaela schenkte dem Kärtchen ihrerseits kaum Beachtung und warf es ins Altpapier.
Nina und Tina, die beiden Zwillinge, sahen in der merkwürdigen Karte jedoch mehr als nur eine irritierende Randnotiz. Die Möglichkeit, dass am besagten Tag jemand auftauchen und ihnen unermesslichen Reichtum schenken würde, ließ bunte Luftschlösser in ihren beiden Köpfen emporwachsen. Nina wollte sich ein Pferd kaufen, Tina hingegen lieber ein Motorrad, und falls das Geld nicht reichen würde, dann wären es eben ein Pony und ein E-Bike. In jedem Fall würden sie das Geld zu nutzen wissen, davon waren Nina und Tina überzeugt, und so wie Nina und Tina dachten sehr viele.
Roland würde sich endlich die Haartransplantation leisten können, mit welcher sich das erbarmungslose Schwinden seiner einst so imposanten Haarpracht aufhalten und umkehren ließe. Beatrice hatte vor, ein Atelier zu eröffnen und sich ganz dem Töpfern und Anfertigen von Tonskulpturen zu widmen. Thomas plante eine Investition in eine flamboyante Gucci-Jacke. Anita wollte sich mit dem Geld ihre Ohren operativ anlegen lassen, damit sie bei starken Winden nicht mehr so laut flatterten. Reto träumte von einem alten Ford Mustang der ersten Generation. Und Vreni wollte eine Reise nach Neuseeland machen, um die Drehorte der Verfilmung der «Herr der Ringe»-Trilogie zu besuchen.
Mit jedem Tag schien die Spannung im Dorf anzuwachsen. Wenn man im Dorfladen oder auf dem Postamt mit einem Ohr den Gesprächen anderer Leute lauschte, war es nahezu unvermeidlich, dabei etwas über ihre unerfüllten Wünsche und sorgsam gehegten und gepflegten Träume zu erfahren. Eine solche Hibbeligkeit der Vorfreude kannte man in diesem Ausmaß bisher nur von kleinen Kindern kurz vor Weihnachten. Doch nun war das ganze Dorf davon ergriffen. Manche waren so aufgeregt, dass sie sogar vergaßen, auf ihre Smartphones zu starren, sondern stattdessen nach oben schauten, wo sie ihre Luftschlösser vermuteten.
Schließlich war der große Tag da. Am Samstag, 8. Januar, pilgerten schon am frühen Morgen unzählige Menschen zur mächtigen Ulme auf dem großen Feld am Dorfrand. Eine herrliche Winterstimmung lag auf der weitflächigen Ebene, und das ganze Dorf schien auf den Beinen zu sein. Mütter trugen Babys im Tragetuch, Väter trugen die Handtaschen der Mütter, Kinder warfen Schneebälle und alte Männer warfen Stöcke, die von ihren Hunden zurückgebracht wurden, und als die Hunde unter sich waren, fragten sie sich ein weiteres Mal, warum die Männer immer ihre Stöcke wegwarfen, die seien ja noch gut, die könne man noch brauchen. Die Hunde zuckten mit den Schultern und schauten den Menschen beim Menschsein zu.
Auch Hugo war da, jedoch nur, damit er allen Leuten erzählen konnte, dass das Ganze eine blöde Spinnerei sei. Seine Frau stand schräg hinter ihm und nickte immerzu, denn Hugo hatte immer recht, fand sie und wollte weiterhin nicht hinterfragen, ob es tatsächlich so war. Die alte Lisbeth saß auf einer Holzbank, löste ein Sudoku und betrachtete die Menschenansammlung mit einem gewissen Argwohn. Hanspeter rückte seinen Aluhut zurecht und Michaela tat so, als wäre sie nur zufälligerweise vorbeigekommen.
Während die Sonne ungestört vom blauen Himmel schien, war das schneebedeckte Feld von munter plaudernden Menschen bevölkert. Die Vorfreude verlor allmählich die Vor-Silbe und wuchs noch einmal an. Beatrice baute fleißig Schneeskulpturen, und als sie Vreni erblickte, machte sie sich daran, Gandalf aus «Herr der Ringe» aus dem Schnee zu formen. Und während Thomas sich fragte, ob eine Gucci-Jacke wohl tatsächlich so warm geben würde wie seine alte Skijacke, die er gerade trug, wogten Anitas Ohren im sanften Januarwind langsam hin und her.
Irgendwann ließ Hugos Frau ihren Mann allein und gesellte sich zu Nina und Tina, die in der Nähe der Ulme standen und mit synchronen Bewegungen in die Sonne blinzelten. «Hallo, ich bin Ruth», sagte sie, und dass Nina und Tina gleichzeitig «Hallo Ruth» sagten, fand Ruth ziemlich lustig, außerdem freute sie sich, dass zum ersten Mal in dieser Geschichte ihr Name fiel, wo sie doch vorher immer die Frau ihres Mannes gewesen war. Sie ließ sich von Nina und Tina in ein Gespräch verwickeln, das wenig überraschend davon handelte, was man mit unermesslichem Reichtum anfangen könnte, und als Ruth sagte, dass sie sich ein Klavier wünschte, wartete sie darauf, von ihren Gesprächsgenossinnen ausgelacht zu werden, wie sie auch von Hugo ausgelacht worden war, als sie ihm einst von ihren Klavierambitionen erzählt hatte. Doch Nina und Tina reagierten ganz anders, nämlich mit überschwänglicher Begeisterung, und attestierten Ruths Idee eine beträchtliche Großartigkeit. Ruths Welt geriet ganz kurz ins Wanken, aber auf eine ungewohnt schöne Weise. Sie schloss ihre Augen und sah sich mit geschlossenen Augen auf einem Hocker an einem Klavier sitzen. Die Vorstellung ließ ihr Herz ganz warm werden, und es war ihr ziemlich egal, was Hugo darüber dachte.
Es war ein heiteres Beisammensein rund um die große Ulme, und die ausgelassene Stimmung brachte die Leute auf Ideen. Jemand zündete ein Feuer an, und der Metzger brachte Würste, die auf lange Stöcke gespießt in die Flammen gehalten wurden. Ein Jugendlicher packte seine Gitarre aus, ein anderer holte seine Trompete aus dem Rucksack, eine junge Frau stellte sogar ihr Hackbrett auf. Die improvisierte Musikantentruppe begann zu spielen, und rasch versammelte sich ein zunehmend begeistertes Publikum um sie, sang mit und drückte mit ungelenken Tanzbewegungen den Schnee unter den zahlreichen Füssen platt.
Die Sonne war ein wenig enttäuscht, dass sie immer weiter hinabsinken musste und irgendwann nicht mehr sehen konnte, wie die Leute auf dem Feld redeten, lachten, tanzten und sangen. Als sie untergegangen war, fehlte die Sonne den Menschen ebenfalls, schließlich wurde es ohne ihren großen runden Heizkörper merklich kühler. Doch sie ließen sich von den fallenden Temperaturen nicht beirren und feierten weiter. Der Grund, weshalb sie sich überhaupt bei der Ulme eingefunden hatten, war jedoch längst weit in den Hintergrund gedrängt worden, die Gesprächsthemen hatten sich verändert. Nina, Tina und Ruth unterhielten sich über Klavierkonzerte und ihre liebsten Komponisten, während Hugo ein wenig verloren daneben stand und an einem Schlangenbrot knabberte. Lisbeth erklärte zwei jungen Männern, wie man möglichst schnell und erfolgreich ein Sudoku löst. Vreni wischte sich mit dem Jackenärmel einen Tropfen aus dem Augenwinkel, während sie Beatrice zuschaute, die gerade einen Hobbit aus Schnee formte. Hanspeter hatte seinen Aluhut verloren und stattdessen eine Zipfelmütze aufgesetzt, die er von einem Bauern geschenkt bekommen hatte. Anita trug ein Stirnband, das ihre Ohren immerhin zur Hälfte bedeckte. Thomas und Reto waren in eine Diskussion über feministische Literatur des 20. Jahrhunderts vertieft. Und Michaela war immer noch da, aber selbstverständlich nur, weil sie weiterhin ganz zufälligerweise in der Nähe war.
Als am Himmel die unzähligen Sterne eingeschaltet wurden und sich ein käsiger Dreiviertelmond hinter den Hügeln erhob und schweigend nach oben schlich, waren nur einige Kinder und die meisten Hunde allmählich müde geworden. In einem improvisierten Tipi-Zelt fanden sie einen Platz, um sich hinzulegen. Jene, die noch wach waren, sorgten weiterhin dafür, dass eine wohlklingende Mischung aus Stimmen, Gelächter und Musik über dem Feld schwebte.
Irgendwann – natürlich nicht irgendwann, sondern pünktlich um Mitternacht – ließ die Glockenschlagfachkraft im Kirchturm ihren Hammer zwölf Mal auf die große Glocke prallen. Mit jedem Glockenschlag wurden die Leute stiller, und nach dem zwölften Schlag hing nur noch der Nachhall des finalen Gongs in der Luft, doch die Menschen waren verstummt. Der Tag, an dem etwas Außergewöhnliches geschehen sollte und jede Person, die teilnahm, fürstlich belohnt werden und unermesslichen Reichtum nach Hause nehmen würde, war vorüber. Doch niemand war mit Säcken voller Geld und Gold aufgetaucht, keine kauzige Wohltäterin war mit dem Rolls-Royce vorgefahren, kein skurriler Milliardär war mit dem Hubschrauber gelandet, und keiner der Anwesenden hatte plötzlich mehr Geld auf dem Konto als noch am Tag zuvor. Doch enttäuscht oder gar verbittert war darüber niemand, überhaupt schien kein Mensch und auch keiner der Hunde die Ansicht zu vertreten, dass die Prophezeiung nicht eingetroffen sei. Nur Hugo wirkte ein wenig verstimmt und murmelte etwas in seinen Bart, doch Ruth wusste mittlerweile, dass ihr Mann sehr häufig nicht recht hatte.
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Dies ist eine leicht abgeänderte Fassung einer Geschichte, die zum Jahresende 2021 in Form eines grossformatigen DIN-A2-Plakats in allen Briefkästen der Gemeinde Speicher AR landete. Die Frontseite zierte die wunderbare Illustration der wunderbaren Lea Frei (leafrei.com).

Was für eine wunderbare Geschichte! Ja, manchmal bräuchte es viel weniger, als man denkt, um Menschen glücklich zu machen 😊
Und was für ein schöner Zufall: Meine Tante und ihre Familie haben vor langer Zeit in Speicher/Trogen gelebt.
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Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte! Und ja, wirklich ein schöner Zufall mit deiner Tante… Herzliche Grüsse…
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Zu erkennen, dass wir nicht alleine sind und wie wenig wir brauchen, dass es uns gut geht, ist in sich ein unermesslicher Schatz. Nur erkennen wir das zu selten. Deswegen sind solche Geschichten ein grosses Geschenk!
Danke fürs Teilen dieser wunderbaren, kraftspendenden und freudebereitenden Geschichte. Wer auch immer in Speicher diese Idee hatte, auch ihm/ihr herzlichen Dank dafür!
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Ja, das Nicht-allein-Sein erkennen zu können ist tatsächlich enorm wertvoll… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine wunderbaren Worte!
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Ich hatte von Anfang an gehofft, dass es nicht um Geld oder Reichtum geht.
Lustig fand ich die Gedanken der Hunde über ihre Besitzer, die immer wieder die doch noch guten Stöcke wegwerfen statt sie selbst zu behalten.
Lieben Gruß zu dir
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte. Ich wünsche dir einen guten Start in ein hoffentlich bereicherndes Jahr…
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Lebensfreude, Erkenntnis und Geselligkeit sind unermessliche Reichtümer 🙂
Grüße & Danke für diese Geschichte!
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Vielen Dank fürs Lesen und für deine Worte! Und weiterhin viel Reichtum dir!
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