Sie ist immer da. Wenn das Kind mit dem Rad hinfällt und sich das Knie blutig schrammt, ist sie da. Wenn die Heizung ausfällt und der Handwerker kommt, ist sie da. Wenn der Mann betrunken heimkehrt, ist sie da. Wenn die Nachbarin verreist und die Katze gefüttert werden muss, ist sie da. Wenn irgendwo Wut oder Frustration oder Trauer aufschäumt und die emotionale Energie absorbiert werden muss, ist sie da. Wenn jemandem die Kraft fehlt, ist sie da. Wenn niemand sonst da ist, ist sie da. Ihr Dasein ist ein Da-Sein. Bis jetzt.
Ich bin dann mal weg, sagt sie sich. Nicht die launige Hape-Kerkeling-Ich-bin-dann-mal-weg-Art. Sondern so richtig weg. Sie will keine Brücken niederbrennen; sie will durch den Fluss schwimmen. Sie will keine neuen Perspektiven gewinnen; sie will etwas anderes sehen als das Gewohnte. Sie will kein Abenteuer; sie will nur ihre Ruhe. Sie will nichts entdecken; sie will wegschauen können. Sie will keine Glücksformel berechnen; sie will sich aus der Gleichung nehmen. Sie will sich nicht selbst finden; sie will sich verlieren.
Kurz nach dem Weggehen setzt sie sich in ein Café. Sie denkt nach, während sich ihr Gesicht im Fenster spiegelt; eine Reflexion mit Reflexion. Es ist gut, dass sie weg ist, findet sie. Doch jetzt, da sie weg ist, ist sie nicht mehr da. Und ohne ihr Da-Sein weiß sie mit ihrem Dasein nicht viel anzufangen. Sie hat sich danach gesehnt, nichts erledigen zu müssen. Nichts sehen, nichts hören, nichts ertragen, nichts auffangen, nichts aushalten zu müssen. Nichts organisieren, nichts klären, nichts initiieren, nichts koordinieren, nichts planen zu müssen. Nichts tun zu müssen. Doch nun ist dieses Nichts alles, was noch da ist in ihrem Dasein. Nun ist nichts schwerer als das Nichts.
Schließlich verlässt sie das Café und steht draußen vor der Tür, an der Straße. Sie schaut nach links, hin zum blutigen Knie, zum Handwerker, zur hungrigen Katze, zum Erdrückenden und Alltäglichen. Sie schaut nach rechts, hin zu den Pfaden, deren Biegungen sie nicht kennt, hin zum Brachland, das sich im Nebel verliert. Dann wieder links, zur Mutter, zur Ehefrau, zur Gefährtin, zur Geliebten, zur Nachbarin, zur Freundin. Dann wieder nach rechts, zum unbekannten Wesen, zum vielfachen Fragezeichen, zur diffusen Form. Sie schmeckt noch den Kaffee in ihrem Mund, doch ein anderer Geschmack mischt sich hinein. Solange sie hier stehenbleibt, ist nichts entschieden, nichts geschehen. Sie zögert den nächsten Schritt hinaus, dehnt den Moment, bis er beinahe zerreißt. Sie schaut nach links. Sie schaut nach rechts. Dann geht sie los.

Ein überaus interessanter und durchgeformter Text!
Den Satz, daß die Person im vorliegenden Text sich nicht selbst finden, sonder sich verlieren wolle, finde ich allerdings eher schief, denn nach meinem Verständnis müßte sie erst einmal ein eigentliches Selbst aufweisen, ehe sie es verlieren könnte; da aber ihre gesamte Existenz anscheinend nur aus einem Für-andere-dasein besteht, ist nicht freiweg ersichtlich, in welchem Sinne überhaupt ein eigenständiges Selbst sich in ihrem Falle gebildet haben sollte, da offenbar alle Selbstdefinitionen dieser Person letztlich von anderen abhängen, wie es sich in eben jenem Für-andere-dasein ausdrückt.
Tatsächlich, denke ich, wäre es also zunächst einmal an der Person im vorliegenden Text – ganz im Gegenteil zum als schief beschriebenen obigen Satz –, sich erst einmal selbst zu finden! Denn wie sonst sollte sie in der Lage sein, eine Selbstdefinition zu finden, die nicht nur von anderen abhängig wäre? Wie sollte dies ohne E i g e n s i n n überhaupt irgendwem möglich sein?
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Kann denn das Da-Sein für andere nicht auch eine Art der Selbstdefinition sein, als singulärer Daseinszweck? Das Sich-Verlieren wäre demnach die Flucht aus diesem Da-Sein, diesem Selbst. Aber es ist spannend, wie es aus deiner Perspektive eher schief wirkt, denn sie ist spannend, deine Perspektive… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte.
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Ich wäre mir da, wie gesagt, nicht so sicher, denn schließlich wäre eine Selbstdefinition ausschließlich über das Für-andere-dasein gewissermaßen eine gänzlich selbstlose, denke ich, wie also könnte sie dann ohne irgendein Für-sich-sein zu beinhalten irgend etwas über das eigenen Selbst aussagen? Letztlich sagte sie lediglich aus, daß diejenige Person, die sich selbst so definieren wollte, eben sich selbst gar nicht definieren könnte (bzw. wollte), weil ein Dasein für sich in ihr gar nicht vorhanden oder überhaupt auch nur angelegt wäre, weder begrifflich noch praktisch: alles was sie täte, und jede Begründung für das, was sie täte, würde diese Person nur mit Verweisen auf andere beantworten können, niemals jedoch mit einem Verweis auf sich selbst oder e i g e n s t ä n d i g e Motive, scheint mir.
So etwas erschiene mir, wenn dieser Begriff in diesem Falle den trotzdem angewendet werden sollte, allenfalls als eine Art paradoxe Selbstdefinition über den Weg der Selbstverneinung: i c h zähle nichts, der a n d e r e hingegen ist alles, was zählt.
Oder siehst Du das anders?
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Vielleicht ist diese Selbstverneinung als Begriff durchaus passend, als Eskalation der Selbstaufgabe und des Für-andere-da-Seins…
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Eine Weile wird es gehen, mit dem Nichts.
Nach einem Leben mit viel Muss.
Erfüllung ist anders.
Nichts kommt früh genug.
Obwohl, wer weiß…
Liebe Grüße!
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Ja, Erfüllung ist anders… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte… Herzliche Grüsse
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