Nach dem Duschen stellt sich Emma vor den Spiegel. Sie führt ihre Nase zu ihrem Unterarm und atmet ein. Sie mag den Duft des Duschgels auf ihrer Haut, mag die Frische und Sauberkeit, für die es steht. Dann betrachtet sie ihren Körper. Sie tut das viel zu selten, sollte doch eigentlich häufiger hinschauen, genauer hinschauen, ausgiebiger hinschauen, immer wieder hinschauen, aber sie tut es nicht, er ist einfach da, der Körper, eine Selbstverständlichkeit, wie so vieles. Emma mustert ihren Unterkiefer und die Eleganz, mit welcher sich die Haut über den Knochen spannt. Sie lässt ihren Blick über ihre Brüste wandern, hin zu ihrem Bauch, dann zu ihrem Schoss, zu den Schenkeln und wieder zurück zum Gesicht. Sie probiert einige Grimassen aus, lässt ihre Gesichtszüge entgleisen, dann schüttelt sie den Kopf und lässt ihn wieder zur Ruhe kommen.
Sie beginnt, ihren Körper mit einer Pflegelotion einzureiben. Emma hat trockene Haut, und die Lotion soll helfen, soll die Haut 24 Stunden lang mit Feuchtigkeit versorgen, zumindest steht dies auf dem Etikett, und Emma fragt sich, wie das funktioniert und ob es stimmt und wie man diesen Zeitraum so genau definieren kann und was mit ihrer Haut geschieht, wenn die 24 Stunden vorüber sind, und dann hört sie auf, sich derartige Fragen zu stellen und fährt fort, die Pflegelotion aufzutragen. Als ihre Hände über ihre Brüste gleiten, überlegt Emma, wann ihr Mann zum letzten Mal seine Hände über ihre Brüste hat gleiten lassen. Sie stellt sich vor, wie es wäre, wenn ein anderer Mensch seine Hände über ihre Brüste gleiten lassen würde, ein anderer Mann oder auch eine Frau. Der Gedanke erregt sie, und sie wundert sich, dass die Vorstellung, es wäre eine Frau, die ihre Hände über ihre Brüste gleiten lässt, ihr mehr behagt als die Vorstellung, es wäre ein Mann. Dann hält sie plötzlich inne. Es sind nach wie vor ihre eigenen Hände, die über ihre Brüste geglitten sind, und diese Hände haben soeben eine Unregelmäßigkeit ertastet. Eine Wölbung unter der Haut, eine Verhärtung. Einen Knoten. Er ist neu, dieser Knoten, zumindest hat sie ihn zuvor nie bemerkt, aber jetzt ist er da, groß und brennend und teuflisch, und mit jeder Sekunde wird er grösser und brennender und teuflischer, er pulsiert unter der Haut. Ein Knoten. Das Badezimmer bebt, die Konturen zittern und verschwimmen, und Emma gerät ins Wanken. Bevor sie hinfällt, klammert sie sich mit gekrümmten Fingern am Waschbeckenrand fest.
Später sitzt sie auf dem Boden, dann legt sie sich hin, damit sie möglichst großflächig Kontakt hat zum Parkett. Die Sonne scheint warm durchs Fenster und zeichnet helle Flächen, doch das Holz ist angenehm kühl und hart, und wenn sie ihre Hüfte oder ihre Schulter nach unten drückt, spürt sie die Knochen unter der Haut. Sie presst auch ihre Brüste gegen den Boden und ist nicht sicher, ob sie ihn tatsächlich wahrnimmt, den Knoten. In ihrem Kopf läuft ein Film, in welchem eine Frau von einer Pistolenkugel in die Brust getroffen wird und stirbt. Emma schaltet den Fernseher aus.
Sie denkt an den Tag, an dem Conny Kramer starb, und daran, wie alle Freunde um ihn weinten, auch Emma weinte, obwohl sie ihn nicht sonderlich gut gekannt hatte. Dass sie, was auch immer geschieht, nicht so früh sterben würde wie Conny Kramer, müsste doch eigentlich ein Trost sein, denkt Emma, doch das ist es nicht, es ist kein Trost.
Ihrem Mann gegenüber erwähnt sie den Knoten nicht, und als er beiläufig fragt, warum sie so still sei, antwortet sie, dass sie müde sei. Am folgenden Tag tut sie das, was Menschen in Filmen tun, wenn sie erfahren, dass sie nicht mehr lange zu leben haben; sie macht eine Liste mit Dingen, die sie vor ihrem Tod noch erleben will. In ihren Gedanken schläft Emma mit Louis, ihrem Nachbarn. Dann schläft Emma mit Lisa, ihrer Arbeitskollegin. Sie hat Sex in einem Zugabteil und dann in einem Fahrstuhl. Sie reist nach Neuseeland und Costa Rica. Sie steht auf einer Bühne und singt in einer ausverkauften Konzerthalle, bis ihr Rosen zufliegen. Sie malt, sie tanzt, sie fliegt mit einem Gleitschirm, und irgendwann hält Emma ein Buch in ihren Händen, auf dessen Rückseite ihr Porträtfoto zu sehen ist.
Diese außergewöhnlichen Momente, sie lassen ein vorsichtiges Lächeln über ihre Lippen wandern, die Aussicht auf eine solche komprimierte Lebenslust verleiht Emma ein Gefühl des Aufbrechens, zumindest vorübergehend. Ihr fällt dieser Satz ein, dass man jeden Tag so leben solle, als ob es der letzte wäre, und ihr waren die Naivität und Banalität dieser Aussage stets zuwider, doch jetzt findet Emma, dass darin doch eine erstaunliche Wahrheit liege. Also beschließt sie, das verbleibende Leben vor dem Tod wahrhaftig zu leben, es so zu leben, wie es die Zuckersäckchen und die kitschigen Bilder mit Sprüchen im Internet erzählen. Bevor sie beginnt, geht sie jedoch noch zu Doktor Hrdlicka, ihrem Arzt, damit er ihre Befürchtung bestätigt.
Doktor Hrdlicka hat eine seltsame Frisur und eine randlose Brille und eine Oberlippe, die auf der linken Seite ein wenig dicker ist als auf der rechten Seite, und nachdem er sie untersucht hat, nimmt Doktor Hrdlicka seine randlose Brille ab und sagt zu Emma, dass es keinen Grund zur Besorgnis gebe. Der Knoten sei ein Fibroadenom, eine gutartige Geschwulst, die keiner Behandlung bedürfe und wohl von selbst abklingen werde. Emma müsse sich keine Sorgen machen, sagt Doktor Hrdlicka und verzieht seine unförmigen Lippen zu einem Lächeln, das wohl freundlich und aufmunternd wirken soll, aber Emma weiß gar nicht, ob ihr nach Lächeln zumute ist. Sie ist gerettet, ihr Leben ist gerettet. Doch sie ist nicht ganz sicher, was sie nun damit anfangen soll.
Am Abend duscht sie so lange und ausgiebig wie vielleicht noch nie zuvor, und nach dem Duschen stellt sich Emma vor den Spiegel. Sie tastet ihre Brüste ab, bewegt den Knoten unter der Haut ein wenig hin und her. Emma denkt an Louis, ihren Nachbarn, dann an Lisa, ihre Arbeitskollegin, und als sie ihn in der Küche hantieren hört, denkt sie an ihren Mann. Sie überlegt, ob sie ihn fragen soll, ob er mit ihr nach Costa Rica reisen würde, doch Emma kennt seine Antwort bereits. Sie probiert einige Grimassen aus, lässt ihre Gesichtszüge entgleisen. Dann schüttelt sie den Kopf und lässt ihn wieder zur Ruhe kommen.
