Sie hat sich ein Meerschweinchen gekauft. Manchmal wird sie gefragt, warum sie sich dieses Meerschweinchen gekauft hat, und dann zuckt Lena mit den Schultern und sagt Einfach so, obwohl sie weiss, dass dies nicht stimmt. Es ist dennoch die richtige Antwort, denn es gibt dazu nichts zu sagen, findet Lena, es gibt nichts darüber zu erzählen.
Sie nennt das Meerschweinchen Herr Rossi. Das ist doch ein lustiger Name, sagt Lena, als das Meerschweinchen sie mit fragenden Augen anschaut und wissen will, wie es zu diesem Namen kam. Es gab mal eine Fernsehserie mit einem Herrn Rossi. Ich habe sie nie gesehen, aber ich mag den Namen. Lena grinst, und Herr Rossi knabbert an einer Karotte.
Im Büro fragt Eva, ob Lena Lust habe, am Wochenende mit ihr tanzen zu gehen. Eigentlich schon, antwortet Lena, doch ich möchte lieber bei Herrn Rossi bleiben. Eva will wissen, wer denn Herr Rossi sei, und Lena gibt die einzige wahrheitsgetreue Antwort, aber ihre Arbeitskollegin glaubt ihr nicht. Eva grinst, und Lena knabbert an einer Karotte.
Ihre letzte Beziehung liegt Jahre zurück, davor gab es vier oder fünf weitere, und Lena bekundet bisweilen Mühe, sich an Namen und Orte und Begebenheiten zu erinnern. Auf einem Zuckersäckchen liest sie, dass die Liebe einen speziellen Raum im Innern beanspruche, doch wenn Lena nach innen blickt, dann ist da kein Raum, da ist nicht einmal eine Tür, sondern nur eine schlecht tapezierte Wand mit Blumenmuster. Wenn Lena an die Wand klopft, klingt es dumpf, als läge ein Hohlraum hinter der Tapete, und vielleicht ist er ja tatsächlich da, dieser Raum für die Liebe.
Wenn sie sich selbst befriedigt, hat Lena niemanden, an den sie dabei denken könnte. Einmal versucht sie, an Cristiano Ronaldo zu denken, warum auch immer, doch sie muss die Selbstbefriedigung daraufhin umgehend abbrechen; sie findet Cristiano Ronaldo sehr eklig, vor allem die Haare, aber auch das Gesicht. Danach versucht sie, nicht mehr an Cristiano Ronaldo zu denken, aber weil sie häufig daran denken muss, nicht an ihn zu denken, denkt sie irgendwie trotzdem an ihn. Irgendwann taucht Idris Elba in ihren Gedanken auf und schiebt Cristiano Ronaldo vehement zur Seite. Cristiano Ronaldo macht ein beleidigtes Gesicht, es sieht dadurch noch ekliger aus, aber Idris Elba sagt ihm, er soll sich verpissen. Lena ist froh darüber, denn sie mag Idris Elba.
Als sie eines Abends auf dem Sofa sitzt, mit Herrn Rossi auf dem Schoss, fragt sich Lena, ob es ausreicht, ob es genügt, abends auf dem Sofa zu sitzen, mit Herrn Rossi auf dem Schoss. Herr Rossi findet, dass man mehr vom Leben erwarten dürfe, sogar mehr erwarten müsse, aber Lena weiss nicht, wie viel Bedeutung sie der Meinung von Herrn Rossi beimessen soll. Sie trinkt einen Schluck Wein, und Herr Rossi schaut ihr ein wenig gelangweilt zu. Herr Rossi trinkt keinen Wein.
In der Nachbarschaft sieht Lena häufig spielende Kinder, und wenn da ein Junge ist, der ein Trikot von Cristiano Ronaldo trägt, mag sie den Jungen nicht, findet ihn unsympathisch, obwohl sie ihn gar nicht kennt. Vielleicht ist das oberflächlich, aber sie kann nicht anders.
Weil sie einen sehr tiefen Blutdruck hat, geht Lena hin und wieder zu einem Arzt. Er heisst Doktor Gustafsson und ist über zwei Meter hoch. Er ist Allgemeinpraktiker, doch er wäre wohl gerne Psychologe oder Psychiater, denn er interessiert sich nicht nur für ihren Blutdruck, sondern auch für ihr Seelenwohl. Lena stört sich nicht daran, sie redet gern mit Doktor Gustafsson, zumal er eine sehr angenehme Stimme hat. Mit dieser angenehmen Stimme fragt er Lena, wie es ihr gehe. Sie überlegt kurz, weil sie das automatisierte Antworten mit einem reflexartigen Gut verhindern will, sagt dann aber trotzdem Gut und lächelt vorsichtig. Was gibt es Neues in Ihrem Leben?, will Doktor Gustafsson wissen. Ich habe mir ein Meerschweinchen gekauft, erklärt Lena. Warum haben Sie ein Meerschweinchen gekauft?, hakt er nach. Lena zuckt mit den Schultern und sagt Einfach so. Sie schweigt einige Sekunden lang und sagt dann Es heisst Herr Rossi. Der Arzt fragt Wer? und Lena sagt Das Meerschweinchen und der Arzt sagt Aha und Lena sagt Ja und mehr gibt es dazu nicht zu sagen, es gibt nichts darüber zu erzählen. Und die Sache mit Cristiano Ronaldo geht den Arzt nichts an, findet Lena.
Später sitzt sie zu Hause auf dem Sofa, mit Herrn Rossi auf dem Schoss, und gemeinsam schauen sie sich eine Serie mit Idris Elba an. Herr Rossi blickt gebannt auf den Bildschirm, und jedes Mal, wenn Idris Elba zu sehen ist, wackelt Herr Rossi mit seinen Ohren. Offensichtlich mag er Idris Elba auch. Lena grinst und streichelt das Fell ihres Meerschweinchens und ist froh darüber, dass sie Herrn Rossi gekauft hat.

Lieber Disputnik,
Ich kenne Herrn Rossi. Hanni Vanhaiden kündigte ihn mir immer am Mittwoch Nachmittag in der Sendung ‚MwieMeikel‘ an. Meikel war ein Bücherwurm mit Brille, so wie ich. Wenn das Wetter draußen schön war, ging ich lieber spielen, weil ich Herrn Rossi langweilig fand. Er suchte immer nur sein Glück Und die Serie war eine Zeichentrickserie, in der die Kulissen und Herr Rossi irgendwie tot oder unlebendig wirkten. Ich mochte die Serie nicht. Mein Meerschwein hieß deshalb auch Fips.
Zugegeben: Herr Rossi ist für ein Meerschwein ein prima Name.
Vor allem für ein glückliches.:-)
Liebe Grüße,
Amélie H.
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Ja, mir waren andere Serien auch lieber, und mein Meerschweinchen hiess ebenfalls nicht Herr Rossi, aber der Name ist toll, find ich, und man kann seine Zeit mit sinnloseren Dingen verbringen als mit der Suche nach dem Glück…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse zurück!
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