Er ist eher ein Katzenmensch als ein Hundemensch. Er mag Katzen, mag ihre Eleganz, ihre Größe, er mag, dass sie ihren eigenen Willen haben und nicht irgendwelchen seltsamen Befehlen gehorchen. Draußen regnet es. Er ist drinnen, er sitzt im Zug, fährt bis nach München. Er hat keine Katze, dazu fühlt er sich nicht in der Lage. Diese Verantwortung!, denkt er. Warum denn München? Er kennt niemanden in München, keine Menschenseele, auch keine Seelenlosen. Trotzdem fährt er hin. Er geht gerne baden, wenn ein warmer Sommerregen fällt. Er geht aber nur selten baden, weil er sich unwohl fühlt, wenn andere Menschen seinen halbnackten Körper sehen. Er fühlt sich auch unwohl, wenn er selbst seinen halbnackten Körper sieht. Wahrscheinlich würde er sich sogar unwohl fühlen, wenn eine Katze seinen halbnackten Körper sehen würde. Aber er hat keine Katze. Obwohl er ein Katzenmensch ist.
Dass er nach München fährt, hat keinen wirklichen Grund. Er hat dort nichts zu suchen und nichts zu finden, er hat nichts zu erledigen, er hat keinen Termin, keine Verabredung. Das Zugticket war relativ teuer, aber im Vergleich zum Billigsten ist fast alles relativ teuer, und das Geld war ihm nicht zu schade, er hat schon viel mehr Geld für viel dümmere Dinge ausgegeben. Er schaut aus dem Zugfenster. Zugfahren bei Regen hat eine ganz eigene Qualität. Man bleibt trocken, es fühlt sich warm und geborgen an, wenn man hinausblickt auf das triste Grau und die nasse Welt, und man kann zusehen, wie die Tropfen über die großen Fensterscheiben eilen. Hunde stinken, wenn ihr Fell vom Regen nass ist. Katzen stinken weniger, sie werden weniger nass. Er hat trotzdem keine Katze, und keine Katze kann ihn sehen, wenn er halbnackt in der Wohnung steht.
Was er in München tun soll, weiß er noch nicht, er hat keine Pläne. Bis er in München ankommt, dauert es noch relativ lange, doch im Vergleich zu seinem gesamten Leben ist die Zugfahrt ein Nichts, ein einziges Blinzeln im Lauf eines langen Tages. Als er ein Kind war, liebte er es, baden zu gehen. Häufig tauchte er ab, drehte seinen Kopf nach oben, blickte hinauf und strampelte so heftig wie möglich mit seinen Beinen, damit das Wasser aufschäumte. Das sah wunderbar aus, vor allem, wenn die Sonne auf das Wasser schien. Warum denn München? Er überlegt, ob er nicht besser aussteigen und wieder zurückfahren sollte, aber viel mehr als die Fahrtrichtung würde sich nicht ändern. Wo auch immer er ankommt, er ist nicht dort, wo er sein will, und wo er sein will, weiß er nicht. Vielleicht fährt er darum lieber nach München, in diese fremde Stadt, in der es keine Rolle spielt, dass er sich nicht zu Hause fühlt.
Neben ihm taucht plötzlich ein Hund auf, groß und braun, mit großen und braunen Augen, die ein wenig dümmlich aussehen. Das Tier blickt ihn an und bewegt sich nicht. Er wartet und hofft, dass bald der Hundebesitzer erscheint, doch niemand kommt, da ist nur dieser Hund. Vielleicht ist er herrenlos, der Hund, vielleicht wurde er zurückgelassen. Er stellt sich vor, wie es wäre, den Hund aufzunehmen. Doch es geht nicht. Er fährt nach München, und in München kann er keinen Hund gebrauchen. Außerdem ist er eher ein Katzenmensch als ein Hundemensch. Er schaut den Hund an. Der Hund schaut zurück. Er fragt sich, was das Tier wohl denkt, und dann überlegt er, ob der Hund sich vielleicht fragt, was er, der Mensch, wohl denkt, und dann zuckt er mit den Schultern und wendet seinen Kopf ab, blickt wieder aus dem Zugfenster. Es regnet noch immer, am Horizont hängen einige dunkelgrauen Wolken vom hellgrauen Himmel herab. Als er sich wieder dem Hund zuwenden will, ist dieser verschwunden. Vielleicht wurde er des Starrens überdrüssig, denkt er. Und vielleicht war er auch gar nie da.
Vielleicht war er auch gar nie da. Womöglich gilt dies nicht nur für den Hund, sondern auch für ihn selbst. Er fährt nach München, doch er kennt niemanden in München, und niemand in München kennt ihn, und wenn er in München mit niemandem reden und nach einigen Tagen wieder weiterreisen würde, dann wäre es beinahe so, als wäre er niemals da gewesen. Nur er selbst könnte sein Dasein bezeugen, aber er weiß durchaus, dass er sowohl andere Menschen als auch sich selbst gut belügen kann.
Der Zug wird allmählich langsamer und hält dann relativ abrupt an. Er blickt hinaus, doch da ist kein Bahnhof, da sind nicht einmal Häuser, nur weite Wiesen und dahinter Wälder. Der Zug steht mitten in der Landschaft, und wenn die Regentropfen sich nicht über die Fensterscheibe bewegen würden, wäre die Welt hinter dem Glas vollkommen reglos, ein tristes Gemälde. Er starrt hinaus, als das statische Bild plötzlich gestört wird. Von links trottet ein Hund über die Wiese, die Zunge hängt aus dem Maul. Der Hund sieht ein wenig aus wie jener, der wenige Minuten zuvor neben ihm stand, doch er kann nicht mit Sicherheit sagen, dass es der gleiche Hund ist. Das Tier läuft immer tiefer hinein in das Gemälde, zunehmend nass und ganz allein, durchquert die Wiese, nähert sich dem Wald und wird stetig kleiner. Als er den Hund kaum mehr erkennen kann, setzt sich der Zug ruckartig in Bewegung, beschleunigt und fährt aus dem Gemälde.
Bald wird er in München eintreffen. Warum denn München? Er wundert sich, wohin der Hund wohl unterwegs ist, und er fragt sich, ob der Hund vielleicht Angst habe, und dann schulterzuckt er die Frage weg. Er ist schließlich eher ein Katzenmensch. Der Hund kann ihm egal sein. Und vielleicht war er auch gar nie da. Draußen hört es auf zu regnen. Dann stinken die Hunde in München wenigstens nicht. Immerhin.

Wirre Gedankengänge.
Kommen mir aber manchmal bekannt vor. 😉
LG
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Tja, geht halt nicht immer geradeaus im Kopf. Hat da ja keine Bahnschienen, auf denen die Gedankenzüge fahren könnten.
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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….und womöglich im Nichts anhalten müssen. 😉
Immer wieder gerne, Disputnik.
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