In einem großen und karg eingerichteten Raum hängt ein Mann ein weißes Leinentuch über einen Kleiderständer und nennt es Kunst.
Er lädt einige Menschen ein, die er kennt, und diese laden einige Menschen ein, die er nicht kennt, und dann stehen diese Menschen im großen und karg eingerichteten Raum und bilden einen Kreis um das Tuch auf dem Kleiderständer und legen ihre Kinne in ihre Handflächen und murmeln in verschiedenen Tonlagen und nicken ab und an, und der Mann, der das Tuch über den Kleiderständer gehängt hat, nickt ebenfalls ab und an und lächelt ein seltsam krummes Lächeln. Einige sehen sich um, wohl auf der Suche nach dem Weißwein und den Häppchen. Anderen sieht man an, dass sie sich nur gerade in überlebensnotwendigem Ausmaß für Essen und Trinken interessieren. Manche nicken nochmals, einige räuspern sich ziemlich laut oder husten ziemlich leise, und nachdem sie nochmals vergeblich nach Wein und Häppchen Ausschau gehalten haben, verlassen sie den großen und karg eingerichteten Raum allmählich wieder, bis nur noch der Nachhall ihres vielstimmigen Murmelns in der Luft hängt.
Nachdem alle gegangen sind, steht der Mann allein vor dem Kleiderständer und dem Tuch und kichert leise, bevor auch er den großen und karg eingerichteten Raum verlässt. Das weiße Leinentuch hängt ganz allein über dem Kleiderständer, und hätte es Gefühle, es würde sich zweifellos sehr einsam fühlen. Als der zu Ende gehende Tag sich schon fast damit abgefunden hat, dass sich in seinem Dasein nichts mehr ereignen wird, geht die Türe auf und eine ältere Dame betritt den Raum. Ein Namensschild an ihrer Bluse verrät, dass sie die Mutter des Mannes ist, der die Kunst geschaffen hat. Mit kurzen und raschen Schritten nähert sie sich, bis sie vor dem merkwürdigen Objekt steht. Sie geht einmal um den Kleiderständer herum, lässt ein Hmm entweichen und wartet, bis es nicht mehr zu hören ist. Vorsichtig betastet sie das Leinentuch, vermischt ein Kopfschütteln und ein Schulterzucken zu einer einzigen harmonischen Bewegung. Dann nimmt sie das Tuch vom Kleiderständer, zerknüllt es in ihren Händen und trägt es aus dem Raum.
Am nächsten Tag ist der Mann außer sich. Ganz weit außer sich. So weit, dass seine Stimme sehr hoch klingt und sich bisweilen überschlägt.
«Mama, wo ist mein Kunstwerk?»
«Welches Kunstwerk?»
«Das Tuch!»
«Ach, das schmutzige alte Ding? Das habe ich gewaschen. Es sollte bald trocken sein.»
«Du hast es gewaschen?» Der Mann klingt sehr ärgerlich, beinahe wütend, was seine Mutter ein wenig irritiert.
«Ja, jetzt ist es wieder schön sauber.»
«Aber das war Kunst!»
«Das soll Kunst sein?» Die Mutter will sich den vorwurfsvollen Ton ihres Sohnes nicht länger gefallen lassen und lässt ihrer Stimme eine schnippische Klangfarbe angedeihen. «Ich war mal mit einem Mann zusammen, der konnte ein Stück Fleisch so gut malen, dass es aussah wie die Fotografie eines Stücks Fleisch. Das war Kunst!»
«Verdammt noch mal, Mama!» Der Mann färbt sein Gesicht rot und beginnt, mit den Armen zu rudern. «Du hast keine Ahnung von Kunst! Nicht die geringste! Lass mir bloß in Ruhe mit deinem unqualifizierten Gerede. Geh zurück zu deiner Waschmaschine!»
Der Mann schnaubt. Die Mutter schnappt nach Luft. Beide finden den Boden sehr interessant.
Später holt der Mann das Leinentuch von der Wäscheleine und bringt es zurück in den großen und karg eingerichteten Raum. Er gräbt seine lange dünne Nase in den Stoff und atmet den Duft des Waschmittels ein. Es ist ein magisches Waschmittel, man kann damit durch die Zeit reisen, bis in die Kindheit. Schon damals hat die Mutter mit diesem Waschmittel gewaschen. Der Mann lächelt, doch weil er sein Gesicht noch immer ins Leinentuch gebettet hat, bleibt das Lächeln nur eine Behauptung. Von den Wänden klingen noch die Worte nach, die er seiner Mutter zugerufen hat. Der Mann lässt das Leinentuch sinken und beißt sich auf die Unterlippe. Als es zu schmerzen beginnt, entspannt er seinen Kiefer und zischt das Wort Trottel in den leeren Raum. Nachdem es nicht mehr zu hören ist, schüttelt er das Leinentuch aus und hängt es wieder über den Kleiderständer.
Am nächsten Tag ist der Mann außer sich. Ganz weit außer sich. So weit, dass seine Stimme versagt und keine Töne zu erzeugen vermag. Auf dem Bett der Mutter liegt ein weißes Leinentuch; zwar nicht jenes Leinentuch, das im großen und karg eingerichteten Raum über dem Kleiderständer hängt, aber ein ganz ähnliches weißes Leinentuch, und auf diesem weißen Leinentuch liegt die Mutter. Sie liegt still, vollkommen reglos, die Mutter. Der Mann hält inne und wartet und schaut, bis er es realisiert. Die Mutter atmet nicht mehr. Der Mann schnappt nach Luft.
«Mama?» Seine versagende Stimme lässt das Wort stumm auf den Lippen des Mannes verharren. Er kniet sich hin, legt den Kopf auf die Brust der Mutter, horcht auf den Herzschlag, doch er hört ihn nicht, spürt ihn nicht. Stattdessen dringt ein Rauschen in seine Ohren, aber das Rauschen kommt nicht aus der Brust der Mutter. Später rutscht sein Kopf vom Körper der Mutter ab und liegt auf dem weißen Leinentuch. Der Mann gräbt seine lange dünne Nase in den Stoff und atmet den Duft des Waschmittels ein. Es ist ein magisches Waschmittel, man kann damit durch die Zeit reisen, bis in die Kindheit. Schon damals hat die Mutter mit diesem Waschmittel gewaschen. Der Mann versucht ein Lächeln, doch weil er sein Gesicht noch immer ins Leinentuch gebettet hat, bleibt der Versuch nur eine Behauptung. Von den Wänden klingen noch die Worte nach, die er seiner Mutter zugerufen hat, die letzten Worte an sie.
In einem großen und karg eingerichteten Raum hängt ein Mann ein weißes Leinentuch über einen Kleiderständer und nennt es Kunst.

Eine überaus einfühlsame Geschichte! Sie vermag leichthin Verständnis für die Kunst des verkannten Künstlers zu wecken, der am Ende gar vom Zyniker zum Emphatiker sich wandelt?
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Vielen Dank dir fürs Lesen und Einfühlen und für deine Worte!
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Hach, was bin ich froh, dass ich nicht die einzige bin, die beim Lesen an Beuys dachte. Mein erster Chef nach der Wende war der große Kunstsammler Dr. Erich Marx, der so viel Kunst besaß, dass er sie im Hamburger Bahnhof ausstellte. Da kam ich zum ersten Mal mit Beuys in Kontakt – aber ich wurde nie warm mit ihm.
Ich hätte wie die Mutter auch Probleme gehabt, den überdeckten Kleiderständer als Kunst zu erkennen.
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Ob Kunst oder nicht; vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Clara!
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Eine dieser Geschichten, die erzählt werden mussten. Wo wäre sie sonst…
Sie gefällt mir, lässt mich kurz an die Wannensache von Beuys denken…, aber nur kurz. Am Ende nicht mehr! –
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Freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt. Ja, am Ende entfernt sie sich von Beuys und Co. ziemlich abrupt… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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