Gregoria ist verärgert, sie ist wahrlich verärgert, nicht immer, aber doch ziemlich häufig, sehr häufig sogar, denn das Wort ziemlich ist ziemlich relativierend, fast so relativierend wie das Wort relativ, und Gregoria ist nicht relativ häufig verärgert, auch nicht ziemlich häufig verärgert, sondern sehr häufig verärgert, sie ist auch verärgert über Wörter wie ziemlich und relativ und über Menschen, die Wörter wie ziemlich und relativ in den Mund nehmen und unbedacht wieder entweichen lassen, denn Wörter wie ziemlich und relativ sind fürchterlich ungenau und vage, so unverbindlich wie ein Windhauch in einem Laubwald im Frühling, wie ein Schulterzucken, und auch über Schulterzucken ist Gregoria verärgert, vor allem ist Gregoria verärgert über schulterzuckende Menschen, denn schulterzuckende Menschen sind unfähig, sich festzulegen, sich zu bekennen, schulterzuckende Menschen sagen häufig Jein, sie mogeln sich durch die Dinge der Zeit und tragen einen nichtssagenden Blick im Gesicht, und auch über diesen Blick ist Gregoria verärgert, er ist so leer, völlig frei von Konturen oder Kanten, an denen sich festhalten ließe, und über den fehlenden Halt ist Gregoria ebenfalls verärgert, über den überall fehlenden Halt, sie ist verärgert über das Taumeln und die Hilflosigkeit, über die Einsamkeit und die Bitterkeit, sie ist verärgert über ihre Eltern, denn wer nennt sein Kind schon Gregoria, wer zeugt ein Kind und sieht es im Bauch der Mutter heranwachsen und schließlich glitschig in die Welt rutschen und kommt dann zur Übereinkunft, dass dieses kleine Geschöpf den Namen Gregoria tragen soll, Gregoria, ein Name wie eine Bestrafung, und sie denkt mit säuerlich schmeckender Missgunst an ihre Freundin Elisabeth, die zwar auch nicht glücklich ist über ihren Namen, sich aber gefälligst glücklich schätzen sollte, denn Elisabeth kann man zu Lisa verkürzen, zu Elisa, zu Betty oder Beth, wenn man eine anglophile Ader hat oder im besagten Sprachraum wohnhaft wird, man kann Elisabeth sogar zu Sabeth formen, wie dies Max Frisch in Homo faber getan hat, aber auch über Max Frisch ist Gregoria verärgert, über sein Unvermögen, sich literarisch wahrhaftig auf Frauen einzulassen, obwohl ihr bewusst ist, dass die Möglichkeit besteht, dass sie Max Frisch diesbezüglich Unrecht tut, denn eine Gewissheit in diesen Dingen gibt es nicht, es ist alles nur Vermutung und Interpretation und Einschätzung, es ist alles nur Meinung, und Meinung ist allenfalls ein ferner Schatten des Wissens, und Gregoria ist verärgert darüber, wie wenig sie weiß, sie ist verärgert darüber, dass sie selbst bei größtmöglicher Gewissheit nur zu wissen glaubt und dass es ein absolutes Wissen nicht gibt, nicht für sie, denn obschon Gregoria beispielsweise weiß, dass ihr Nachbar Vittorio Conte heißt, besteht die Möglichkeit, dass ihr Nachbar nicht Vittorio Conte heißt, sondern lediglich behauptet, Vittorio Conte zu heißen, und Gregoria ist verärgert über diese Möglichkeit, verärgert über die Tatsache, dass ihr Nachbar Giorgio Corlucci heißen und ein untergetauchter Mafiaboss sein könnte, und manchmal, wenn der vermeintliche Vittorio Conte vor dem Haus steht und schulterzuckend die Wolkenformationen am Himmel betrachtet und dabei Zigaretten raucht, fragt sie sich, ob in diesem schludrig in die Welt skizzierten Körper tatsächlich ein kriminelles Schwergewicht süditalienischer Prägung stecken könnte, und Gregoria ist verärgert darüber, dass sie ihn nicht fragen kann, obwohl sie ihn eigentlich fragen könnte, sie ist verärgert darüber, wie viele Dinge man nicht tut, weil man schon in den ersten Lebensjahren eingeimpft und indoktriniert erhalten hat, dass es sich nicht gehört, diese Dinge zu tun, und so steht der Anstand dem Ergründen von mutmaßlichen mafiösen Hintergründen im Weg, denn sie wagt es nicht, Vittorio Conte zu fragen, ob er in Wahrheit Giorgio Corlucci heißt, eigentlich ist es ihr auch egal, ob Vittorio Conte in Wahrheit Giorgio Corlucci heißt, und auch darüber ist Gregoria verärgert, sie ist verärgert über die Gleichgültigkeit, über ihre eigene Gleichgültigkeit und über die Gleichgültigkeit der Leute, über ihr Desinteresse, Gregoria ist verärgert über Faulheit der Leute, obwohl sie sich selbst auch täglich der Faulheit schuldig macht, und sie sieht die Doppelmoral darin durchaus, überhaupt die Doppelmoral, sie lauert immer und überall, obwohl sie denkt, dass Doppelmoral ein unsinniges Wort ist, der Begriff führt in die Irre, denn die Moral wird in derartigen Situationen nicht verdoppelt, vielmehr trifft eine Positivmoral auf eine Negativmoral, wodurch sie sich aufheben, die vermeintliche Doppelmoral ist gewissermaßen eine Absenz von Moral, und Gregoria wundert sich über diesen Gedanken, und während sie sich darüber wundert, fällt ihr auf, wie selten sie sich wundert, wie schwer es ihr offenbar fällt, sich zu wundern, ungleich schwerer als im frühen Kindesalter, und auch darüber ist Gregoria verärgert, über das Abhandenkommen des Wunderns, überhaupt über das Abhandenkommen, das vom Lauf der Zeit angetriebene Abhandenkommen, sie ist verärgert über die unzähligen Opfer des Erwachsenwerdens, über die unwiederbringlichen Verluste, sie ist verärgert über den Verlust der Unschuld, jeglicher Art von Unschuld, auch der sexuellen Unschuld, sie ist verärgert darüber, dass ihr die sexuelle Unschuld von einem dummen jungen Mann namens Erich genommen wurde, schon über den Namen ist sie verärgert, jedenfalls im Nachhinein, denn wenn zwei Personalpronomen in einem Namen stecken, darf man wohl nicht überrascht sein, wenn sich beim betreffenden Menschen Persönlichkeitsstörungen offenbaren, dieser Er und das dazugehörige Ich lagen in stetigem Konflikt miteinander, kämpften unter der Haut mit fiesen Waffen, und Erich konnte dieser Zerrissenheit nicht Herr werden, baute sich eine Wand aus Kälte und Wut auf, und Gregoria ist verärgert darüber, dass sie sich trotzdem auf Erich einließ, sich wahrhaftig auf ihn einlassen wollte, um ihm zu helfen, und dabei lange Zeit nicht erkannte, dass sie ihm nicht helfen konnte, dass er nicht an ihrer Hilfe interessiert war, auch nicht an ihr als Person, als Gregoria, sondern maximal an ihrem Körper, ihrer Hülle, und eigentlich ist Gregoria nicht einfach verärgert über die Dummheit des dummen jungen Erichs, sondern auch und vor allem über die Dummheit der dummen jungen Gregoria, und während dieser Gedanke durch ihren Kopf wabert, ist Gregoria verärgert darüber, dass sie die Schuld bei sich selbst sucht, obwohl sie überzeugt ist, dass sie in dieser Situation und trotz verlorener Unschuld nicht die Schuldige ist, doch dieser Schuldkomplex, er wuchert in ihrem Hirn, wuchert wohl in vielen Frauenhirnen, wie ein tradierter Tumor, und Gregoria ist verärgert über dieses Tradieren, über die verkrusteten Strukturen und Konstrukte der Gesellschaft, sie ist verärgert über die Gesellschaft an sich und somit auch über sich selbst, denn sie ist ein Teil der Gesellschaft, ein sehr kleiner Teil zwar, aber dennoch damit verbunden, darin enthalten, und obschon Gregoria häufig verärgert ist über die Leute und darüber, was die Leute tun oder lassen, ist Gregoria am Ende vor allem sehr häufig verärgert über Gregoria, und das liegt längst nicht nur am Namen, obwohl der Name wirklich ziemlich ärgerlich ist, oder nein, nicht ziemlich ärgerlich, auch nicht relativ ärgerlich, sondern sehr ärgerlich, und Gregoria ist nicht nur verärgert über Gregoria, sondern vor allem verärgert darüber, dass sie so häufig verärgert ist, denn eigentlich ist alles oder zumindest vieles gar nicht so schlimm, eigentlich könnte sie einfach mit den Schultern zucken und einen nichtssagenden Blick im Gesicht tragen, doch irgendwie will ihr das Schulterzucken nicht gelingen, und zumindest über das gescheiterte Schulterzucken ist Gregoria für einmal nicht verärgert.

Der letzte Satz macht Hoffnung, ich war schon kurz davor, ihr ein selbst initiiertes, sozial verträgliches Ableben zu empfehlen.
Liebe Grüße, Reiner
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Dann hat Gregoria ja Glück gehabt, dass sie dich nicht verärgert hat 😉
Vielen Dank dir fürs Lesen!
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Gregoria ist also immer verärgert 🙂 ständig verärgert und weil sie sich immer ärgert, bekommt sie früh Falten und über die zu frühen Falten ärgert sie sich schon wieder 🙂 Aber am Ende resigniert sie und ärgert sich nicht mehr 🙂
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Ja, am Ende ist sie vielleicht des Ärgerns überdrüssig und zuckt lieber mit den Schultern… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte! (Sehr schön, wieder mal von dir zu lesen…)
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*lächel*, sollte ich ab jetzt immer mal wieder tun
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