Als sie das erste Mal darüber redet, ohne darüber zu reden, sagt sie das:
«Ich habe es ihm versprochen. Habe ihm mein Wort gegeben, niemandem davon zu erzählen, solange er lebt. Habe ihm und mir selbst geschworen, das Geheimnis zu bewahren und mit niemandem darüber zu reden. Darüber, was er getan hat.»
Als sie das zweite Mal darüber redet, ohne darüber zu reden, sagt sie das:
«Er hat sich geschämt. Er hat das nicht so gesagt, aber ich bin mir sicher, dass er sich geschämt hat. Er ist ja nicht ganz richtig im Kopf, das weißt du ja. Das ist alles nicht so einfach. Und schließlich ist er mein Bruder.»
Als sie das dritte Mal darüber redet, ohne darüber zu reden, sagt sie das:
«Ich werde es nie vergessen können. Ich werde ihm nie verzeihen können. Aber ich habe ihm versprochen, mit niemandem darüber zu reden, solange er lebt. Und ich halte meine Versprechen. Es ist wichtig, dass man seine Versprechen hält. Sonst sollte man keine machen.»
Als sie das vierte Mal darüber redet, ohne darüber zu reden, sagt sie das:
«Natürlich habe ich manchmal daran gedacht, ihn nochmals darauf anzusprechen. Habe mir vorgestellt, was er sagen würde. Aber es bringt doch nichts. Er ist ja nicht ganz richtig im Kopf, das weißt du ja. Und er ist jetzt schon sehr alt. Er vergisst Dinge. Wahrscheinlich hat er auch vergessen, was er getan hat. Das bringt doch alles nichts.»
Als sie das fünfte Mal darüber redet, ohne darüber zu reden, sagt sie das:
«Ich habe mein Versprechen gehalten, er hat unser Geheimnis ins Grab genommen und mich damit zurückgelassen. Aber warum soll ich jetzt darüber reden? Er ist erst seit ein paar Tagen tot. Irgendwann vielleicht. Irgendwann werde ich darüber reden. Wer weiß. Aber es wird sich sowieso nichts mehr ändern. Was geschehen ist, ist geschehen. Man macht es nicht ungeschehen, wenn man darüber redet.»
Als sie das sechste Mal darüber redet, ohne darüber zu reden, sagt sie das:
«Weißt du, wie es meinem Bruder geht? Weißt du, wo er ist? Ich habe schon lange nichts mehr von ihm gehört. Warum muss ich denn hier sein? Ich will nach Hause. Nein, ich habe keinen Hunger. Ich bin müde.»
Danach schweigt sie. Schaut suchend aus dem Fenster und dann auf einen Punkt auf dem Tisch. Die anderen Menschen im Gemeinschaftsraum nimmt sie kaum wahr. Die Wolljacke, die sie trägt, ist viel zu groß für ihren kleinen Körper. Die Schultern hängen nach vorne. Ihre Lippen zittern, öffnen sich ein wenig, als wolle sie etwas sagen. Doch sie sagt nichts.

klasse!
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Vielen lieben Dank dir!
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Großartig!
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