In der Nacht träumte sie, dass es Frösche regnete. Große, plumpe Körper, zu Tausenden und Abertausenden, eine Plage biblischen Ausmaßes. Beim ersten Frosch, der auf ein nahes Blechdach prallte, erschrak sie heftig. Der Regen wurde rasch stärker, und in den ersten Minuten war sie verblüfft darüber, dass es Frösche waren, die vom Himmel fielen. Doch bald gewöhnte sie sich daran, wie man sich wohl an alles gewöhnt, irgendwann. Als der Froschregen aufhörte, war sie erstaunt, wie still die Welt plötzlich war.
Am nächsten Morgen war von den Fröschen nichts mehr zu sehen, gerade so, als wäre es nie geschehen. Doch sie zweifelte daran, dass es nur ein Traum war. Sie kannte Träume, sie wusste, wie sie sich anfühlten. Das war kein solcher Traum gewesen.
Als sie zum Bahnhof ging, um zur Arbeit zu fahren, sah sie einen Mann, der seinen Kopf einmal um 360 Grad drehte. Sie war irritiert und blickte noch einmal genau hin, doch der Mann wiederholte seine außergewöhnliche Handlung nicht. Er schaute sie nur kurz an und ging weiter, als wäre alles ganz normal, aber sie war überzeugt, dass es diese komplette Drehung des Kopfes gegeben hatte, obwohl sie sich nicht erklären konnte, wie sie möglich war.
In der folgenden Nacht träumte sie davon, dass sie in einer kleinen, fensterlosen Kammer eingesperrt war. Der Raum war nahezu leer, abgesehen von einem kleinen Tisch, auf welchem eine Lampe stand, die schwaches Licht spendete. Neben der Lampe lagen ein Blatt Papier und ein Kugelschreiber. Sie wusste nicht, was sie schreiben sollte, doch sie war sich sicher, dass ihre Worte ihr den Weg in die Freiheit bereiten würden. Sie nahm den Kugelschreiber in die Hand, setze ihn an und verharrte. Nicht einmal ein Buchstabe wollte ihr gelingen, auch kein Fragezeichen, obschon sie dieses dringend benötigt hätte. Sie bemerkte, wie das Papier unter ihrem Handballen wellig wurde, aber sie ließ die Hand liegen, zum Schreiben bereit. Irgendwann würden ihr die Worte einfallen, dachte sie. Doch dann wachte sie auf und blinzelte in ihr Schlafzimmer, verwundert darüber, dass das erwachende Licht des Tages durch das Fenster fiel.
Sie war überzeugt, dass etwas passieren würde, etwas Fürchterliches, etwas Schreckliches. Alles Normale machte sie misstrauisch, und jede Abweichung von der Norm schien ihr verdächtig. Wenn sie unterwegs war, drehte sie sich immer wieder um. Wenn sie sich in Räumen aufhielt, versuchte sie, ihren Rücken einer Wand zuzuwenden. Wenn sie mit Menschen sprach, wurde sie immer vorsichtiger in ihrer Wortwahl und wägte sorgsam ab, wem sie was erzählte. Manchmal, wenn es ganz ruhig war, glaubte sie ein Knirschen zu hören, wusste aber nicht, woher es stammte.
Sie dachte daran, wie die Welt komplett zerstört werden würde, und wer auch immer danach noch zugegen war, würde nicht wissen, wie die Welt zuvor ausgesehen hatte. Irgendjemand musste die Dinge der Welt festhalten, sie definieren, sie katalogisieren, damit die Nachwelt informiert war. Also begann sie, alles niederzuschreiben, in großen Notizbüchern. Zwar war ihr bewusst, dass wohl auch diese Notizbücher der Zerstörung zum Opfer fallen dürften, doch sie schrieb dennoch alles auf und klammerte sich an eine irrationale Hoffnung. Sie erklärte jeden Baum, die Beschaffenheit von Hauswänden und Polstersesseln, den Geschmack von Ingwer. Sie schrieb über den Klang von Applaus, über den Geruch von Benzin, über die Unberechenbarkeit der Liebe. Buch um Buch füllte sie, verbrachte jede freie Minute damit. Sie kündigte ihren Job und schrieb noch häufiger, ließ nur zum Essen und Schlafen vom Schreiben ab. Einen ganzen Raum hatte sie mit Büchern gefüllt, fein säuberlich geordnet.
Je mehr sie schrieb, desto weniger schlief sie. Zwar war sie unerträglich müde, doch sie zwang sich, möglichst lange wachzubleiben. Wenn sie dennoch einschlief, wachte sie bald darauf wieder auf; ihr Körper schien sich dem Diktat ihres Kopfes zu fügen. Ihre Träume, die zuvor die Nächte erfüllten, wurden seltener und hörten schließlich vollständig auf. Noch immer schrieb und schrieb sie, die Schrift wurde immer kleiner, ungestümer, hastiger. Und dann, eines Tages, blieb ihre Hand auf der Buchseite liegen, bewegte sich nicht mehr, wusste nicht weiter. Da war nichts, absolut nichts, das es noch zu schreiben galt.
Sie stand auf, ging in die Küche, trank ein Glas Wasser. Als sie aus dem Fenster blickte, sah sie einen dunklen Fleck auf dem Asphalt vor dem Haus. Sie schaute genauer hin und erkannte einen Frosch, der Körper groß und plump. Sie blickte zum Himmel, dann wieder zum Frosch. Schließlich wandte sie sich ab und ging ins Schlafzimmer. Auch hier stapelten sich die Bücher, nur ein kleiner Pfad zum Bett war noch begehbar. Sie legte sich hin und lauschte. Das Knirschen war noch immer da, war schriller geworden. Sie atmete tief durch und wartete, bis ihr Herzschlag sich verlangsamt hatte. Dann schlief sie ein, gab sich der beginnenden Nacht hin, einer traumlosen Nacht ohne Ende.

…wie und den kenn ich noch nicht? Puuuh, was für eine Szene. Jetzt gugele ich mal den Film. Lieben Dank.☺️
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Die drei grossartigsten Stunden, die ich je in einem Kino verbracht hab.
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Oh im Kino: ein Traum! Ich habe gerade geschaut und will ihn unbedingt sehen. Allein die Beschreibung. Feiner Tipp👌
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Was ich jetzt kommentiere, hat nur bedingt mit deinen Fröschen zu tun.
1996 habe ich mit jungen Leuten eine Fahrradtour in Frankreich gemacht. Die haben gekifft wie die Weltmeister. Irgendwann gab es eine Hasch-Party und ich wurde auch überredet, Kekse mit Hasch und 2 Kakaos damit zu trinken. – Schlimmere Halluzinationen habe ich davor und danach nie gehabt. Ich hörte meine Mitradler reihern und ko…tzen, denn brechen war das nicht mehr.
Und als ich am nächsten Morgen angeekelt vor die Tür ging, war NICHTS, aber es hatte auch keinen Regen und keinen Reinigungsdienst gegeben.
Ich weiß nicht, ob ich lieber Frösche gehört hätte?
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Klingt sehr… hmm… abenteuerlich, deine Fahrradtour in Frankreich… Hast du deine Mitradler denn noch gefragt, ob sie die Rückstände heimlich entfernt haben oder ob du tatsächlich einige Momente neben der Realität her gelebt hast?
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und fürs Teilen deiner Erinnerungen!
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Alle haben fest geschlafen, keiner hat was von sich gegeben.
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Oha… Dann war’s wohl gute Medizin 😉
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Kannste laut sagen – aber „Medizin“, die ich nur ein einziges Mal im Leben genommen habe.
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Du hast echt…also es lohnt sich echt, Deine Kommis zu stalken, jetzt kommen die Abenteuer der Bewusstseinserweiterung in der Jugend heraus…Hut ab. Hast Dich was getraut! (Trotz unerwünschter Visionen)🌀➰🧚♀️
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Nix da Jugend – es war 1996,drei Monate nach Heikos Tod. Mir sagten dann die „Haschfachleute“, dass die augenblickliche Stimmung durch Hasch verstärkt wird. Vielleicht ging es mir deswegen so mies.
Wenn du mich schon länger bzw. ganz lange lesen würdest, dann hättest du das gekannt, denn ich habe darüber geschrieben. Du bekommst jetzt auch die Chance:
https://chh150845.wordpress.com/2010/05/05/hasch-mich-ich-bin-der-wahnsinn/
Das war in meinem ersten Blogjahr
Drüxx und schlaf gut!
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Au Backe…nun ist mir ganz plümerant…das liest sich zwischen Verfolgungswahn und grenzenloser Einsamkeit oder einer Isolation wie eine Einzelhaft, doch wie eine die wie ein Glasboodenboot ist, weißt Du wovon ich spreche? Diese arme Frau, die ich bei all ihrer Beschreibung um ihr Tun in ihrem Sein vermisse, sitzt mit im Boot. Es gab einen Horrorfilm, er hieß: frogs. War schon irgendwie subtil, diese Bedrohung durch die Frösche und noch bedrohlicher sind Menschen mit Korkenzieherhälsen und wer behauptet, dass es das nicht gibt…? Ich möchte Deiner Akteurin gerne ein Chili kochen, für eine Pritzelzunge, ich möchte ihr sagen: Kauf kein Plastik. Lächle schlau wenn es schwierig wird und ein Löffelchen Chili für die Fee…sodele…ah, die Nasenflügel zucken wie die vom Osterhasen, gute Wirkung, Chili, meine ich. Erweckt die Sinne fürs Leben. Was sind Bücher? Wahr gewordene Träume, manchmal auch schlimme. Sehr gut, denn wer schreibt, träumt noch von Liebe. Dass sie aufhören will, ach, Deine Geschichten…
Danke dafür.🧚♀️
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Ja, die arme Frau, sieht so viel und ist doch nicht drin in dieser Welt… Ich glaube, sie würde sich über das Chili freuen, vielleicht sogar mit den Nasenflügeln zucken, doch das wäre nicht Erschütterung genug, um sie zu befreien. Und ja, was machen wir mit unseren Träumen, was machen unsere Träume mit uns?
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deinen wunderbar doppelglasbödigen Kommentar!
Die Frösche entstammen übrigens dem vielleicht grossartigsten Film überhaupt:
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