Sie steht früh auf, noch bevor der Tag erwacht, denn jeder Sonnenaufgang ist ein Versprechen, und sie kann solche Versprechen gut gebrauchen, daran kann sie sich halten, zumindest so lange, bis sie loslassen muss. Sie macht einen Spaziergang, saugt die frische Morgenluft in ihre Lunge und bläst hinaus, was davon übrigbleibt. Auf einer Wiese am Waldrand erblickt sie ein Reh. Sie denkt an Bambi, und dann denkt sie an die tote Mutter, die toten Mütter, und sie denkt, dass alles so kompliziert ist, und wenn es nicht kompliziert ist, dann ist es nicht unbedingt einfacher. Früher sagte man ihr, sie habe eine große Ähnlichkeit mit ihrer Großmutter mütterlicherseits, und da war sie jeweils verwirrt, sie fand nichts Gutes daran, wie eine alte Frau auszusehen, eine alte Frau, die sie nicht kannte, denn die Großmutter mütterlicherseits war damals bereits tot, und heute ist auch die Mutter tot. Und dann? Was kommt als nächstes, oder wer? Das Reh läuft weg, und sie ist wieder allein. Eine Mücke setzt sich auf ihren Unterarm, der Rüssel dringt unter die Haut und in ihr Fleisch, und nach einem kurzen Zögern schlägt sie die Mücke tot. Zurück bliebt ein roter Fleck, und sie fragt sich, ob es ihr Blut ist, oder jenes eines anderen Menschen, oder sogar das Blut eines Tieres. Gut möglich, dass es das Blut des Rehs ist, das sie zuvor gesehen hat, denkt sie, und vielleicht hat sich das Blut des Rehs mit ihrem eigenen Blut vermischt, dann hat sie einen Teil von Bambi in sich. Der Gedanke, er ist natürlich abwegig, doch er ist seltsam tröstlich, und sie kann solchen Trost gut gebrauchen, daran kann sie sich halten, zumindest so lange, bis sie loslassen muss. Der Sonnenaufgang ist vorüber, das Licht wird heller. Am Abend soll ein Gewitter aufziehen. Doch bis dahin dürfte es ein schöner Tag werden.
