Wenn sie jeweils den schmalen Pfaden im Wald entlanggeht und die knorrigen Baumstämme betrachtet, wäre sie gerne ein Biber. Sie würde sich durch die borkigen Rinden knabbern, würde Ast um Ast zum nahen Fluss schleppen und einen Bau erschaffen, der ihr ein Zuhause wäre. Manchmal sieht sie ein Eichhörnchen im Wald und stellt sich vor, wie es Nüsse für den Wintervorrat sammelt, und fragt sich, warum ihr Bankgeschäfte so egal sind. Sie mag Eichhörnchen, doch Biber mag sie lieber. Dafür gibt es keinen Grund. Manche Dinge sind einfach so, wie sie sind.
Sie geht häufig durch den Wald. Die Ruhe behagt ihr, sie fühlt sich relativ sicher zwischen den Bäumen und Sträuchern, jedenfalls sicherer als in den Gassen der Stadt und auch sicherer als in ihrer kleinen Wohnung. Manchmal stolpert sie über eine Wurzel oder rutscht auf einem nassen Stein aus, und dann entgleitet ihr die Welt für einen Moment. Dann bleibt sie stehen und atmet durch, und meistens genügt das.
Obwohl sie den Wald eigentlich kennt, wirkt er bisweilen seltsam neu und unbekannt, so auch heute. Zwar sind ihr die Wege und einzelne Details durchaus vertraut, dennoch scheinen sich Fehler eingeschlichen zu haben. Sie denkt an jene Rätselaufgaben, bei welchen man zehn Unterschiede zwischen einem Bild und einem zweiten, auf den ersten Blick identischen Bild erkennen muss. Auch bei diesen Bildern spürt sie, dass etwas nicht stimmt, doch sie kann selten genau erkennen, wo die Fehler liegen.
Als sie ein wenig von ihrem gewohnten Weg abkommt, entdeckt sie eine kleine Hütte, verwittert und zerfallen. Zunächst denkt sie an Walden von Thoreau, dann an einen Horrorfilm, dessen Name ihr nicht einfällt. Schließlich wird ihr bewusst, dass sie die Hütte kennt. Sie war schon einmal hier, war in der Hütte, damals als Kind. Zwar war es ein anderer Wald, ein anderes Städtchen, doch die Hütte ist die gleiche wie damals, nur älter. Auch sie selbst ist die gleiche wie damals, nur älter, zumindest müsste es so sein. Aber sie weiß, dass das nicht stimmt.
Vorsichtig und langsam nähert sie sich der Hütte, bis sie ihre Handflächen gegen das dunkle Holz pressen kann. Sie hält den Atem an und schaut durch ein staubiges Fenster hinein, kann aber nichts erkennen. Enttäuscht wendet sie sich ab und geht sie um die Hütte herum, bis sie eine schmale Tür erreicht. Nach einem kurzen Zögern drückt sie die Klinke hinunter und versucht, die Tür aufzustoßen, doch sie gibt nicht nach, bewegt sich nicht.
Sie erinnert sich nun deutlich daran, wie sie als Mädchen einmal in jene Hütte eingedrungen war. Damals war sie nicht allein unterwegs, sondern mit ihrer besten Freundin. Es war ihnen erstaunlich leicht gefallen, die Tür zu öffnen, und obwohl ihr durchaus bewusst war, dass sie etwas tat, das sich nicht schickte und wahrscheinlich verboten war, fühlte sie sich zunächst gut. Das Abenteuer schob ihr Blut schnell und heiß durch ihren Körper, alles war so lebendig und klar, zumindest glaubt sie, dass es damals so gewesen sein musste. Als sie und ihre Freundin im Innern der Hütte standen, hörten sie plötzlich ein scharrendes Geräusch, das aus nächster Nähe zu kommen schien. Sie schrien simultan auf, griffen sich an den Händen und rannten los, hinaus aus der Hütte und hinein in den Wald, immer weiter, bis sie zum Waldrand gelangten und die wohlbekannten Häuser im Wohnquartier erkannten.
Jener Moment, er vermischte sich bald mit den unzähligen weiteren Momenten, die ihre Kindheit formten, zersetzte und zerstreute sich, und sie weiß nicht, wie lange es her ist, seit sie zum letzten Mal an die Begebenheit in der Hütte gedacht hat. Jetzt aber, wo wie wieder vor der Hütte steht, ist die Erinnerung wieder so klar und lebendig wie das Gefühl, das sie damals verspürt haben musste. Nur ist es ihr offenbar nicht möglich, in die Hütte zu gelangen. Noch einmal wirft sie ihr gesamtes Körpergewicht gegen die Tür, doch dann gibt sie auf und setzt sich auf die kleine Treppenstufe vor der Tür.
Sie schließt die Augen und lauscht dem Klang des Waldes. Das Zwitschern der Vögel setzt bisweilen aus und macht Platz für eine entwaffnende Stille, die aber stets nur eine Sekunde oder zwei dauert, bis der Gesang der Vögel wieder einsetzt. Als sie die Augen öffnet und nach oben schaut, trifft ihr Blick auf einen kleinen Gegenstand, der unterhalb des Dachvorsprungs aufgehängt ist. Ein Gebilde aus Metall, ein Schlüssel. Sie steht auf und streckt sich, nimmt den Schlüssel vom Haken und dreht ihn zwischen ihren Fingern. Dann schiebt sie ihn in das Schlüsselloch.
Im Innern der Hütte ist es noch dunkler, als sie es sich vorgestellt hat. Durch die wenigen kleinen Fenster dringt kaum Licht, ihre Augen müssen sich zunächst an die Dunkelheit gewöhnen, und instinktiv hebt sie die Hände, um jeglichen Widerstand sofort erkennen zu können. Sie tritt behutsam auf, bewegt sich vorsichtig vorwärts, als wolle sie verhindern, jemanden zu wecken. Ein Pochen steigt in ihre Ohren, füllt den Kopf und lässt sie wanken. Etwa in der Mitte der Hütte erkennt sie eine Wand und eine Öffnung, durch welche man offenbar in einen zweiten Raum gelangt. Sie geht langsam darauf zu, und als sie die Öffnung erreicht, greift sie mit der Hand an die Wand, um sich festzuhalten. Das Holz ist merkwürdig feucht und weich. Sie beugt sich ein wenig vor und versucht, in den Raum zu blicken, als sie plötzlich ein leises Knarren hört. Sie verharrt und hält den Atem an. Dann ertönt ein scharrendes Geräusch, schroff und nahezu brutal. Sie zuckt zusammen, schreit auf und rennt los, hinaus der Hütte und hinein in den Wald, immer weiter, bis sie zum Fluss am Waldrand gelangt.
Erschöpft lässt sie sich sinken und versucht, wieder möglichst ruhig und gleichmäßig zu atmen. Sie blickt sich um, sieht in beide Richtungen und sucht einen Biberbau, doch da ist kein Biberbau. Da ist nur der Fluss, der dem Wald entlangfließt.

DANKE !!!
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Danke auch!
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… seeehr gruselig …
Liebe Morgengrüße vom Finbar
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Vielen lieben Dank dir!
Und herzliche Sommermorgengrüsse zurück…
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Danke schön- wieder eine klasse Geschichte von Dir und was für eine Gänseschauergeschichte…
manchmal kommen die Schrecken aus der Vergangenheit wieder hoch wie ein bestens verdrängter, jedoch zum Herumspuken bestens aufgelegter Poltergeist ..oder war es am Ende doch nur der Biber gewesen, der am fauligen Hütten-Holz scharrte…?
Wie fremd kann Vertrautes klingen, wenn es seiner ursprünglichen und bekannten Umgebung entrissen wird…und wenn man blind ist und unantastbar vor Angst.
Liebe Grüße von der Fee
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Vielen lieben Dank dir!
Ja, da sind wohl mitunter einige Poltergeister, die in irgendwelchen Hütten oder in dunklen Ecken im Hinterhof des Bewusstseins lauern und darauf warten, mit einem lauten Buh! wieder hervorzuschnellen.
Herzliche Grüsse zurück!
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Gut geschrieben, Disputnik.
Wie sich die Ängste von der Kindheit ins Erwachsenenleben übertragen.
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Vielen lieben Dank dir! Ja, manche wird man wohl einfach nicht los…
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