Der kleine Vogel war wohl aus dem Nest gefallen. Er lag unter einem Baum auf dem Asphalt und zitterte, konnte sich kaum bewegen. Sie kniete sich neben ihn hin, redete auf ihn ein, doch Worte konnten den Vogel nicht retten, das wusste sie. Also nahm sie ihn hoch und trug ihn nach Hause, baute ihm in einer Kartonschachtel eine kleine Krankenstation, wollte ihn pflegen, bis er wieder wohlauf war und vielleicht sogar fliegen konnte. Doch am nächsten Morgen war der Vogel weder wohlauf noch flugfähig, sondern tot. Sie weinte, obwohl sie seinen Namen nicht kannte.
All die leeren Worte. All die leeren Jahre. Morgen wird alles besser, haben sie gesagt. Doch das Morgen wird immer zum Heute, das Morgen ist nur eine Illusion. Morgen ist egal. Morgen ist wurst. Sie mag keine Wurst, jede Art von Wurst ist ihr zuwider, vor allem Blutwurst. Sie könnte Insekten essen und Tintenfischtentakeln, aber keine Blutwurst. Doch eigentlich hat sie gar keinen Hunger.
Was macht man mit einem toten Vogel? Sie fragt das Internet, und das Internet antwortet, dass sie den Vogel möglichst rasch und tief vergraben oder in eine Plastiktüte einpacken und im Hausmüll entsorgen soll. Eine weitere Antwort lautet, dass sie den Vogel frischtot beim Veterinäramt abgeben soll. Sie hat den Begriff frischtot noch nie zuvor gehört oder gelesen. Wie lange ist ein Vogel frischtot? Was ist er, wenn er nicht mehr frischtot ist? Sind auch Menschen kurz nach ihrem Tod frischtot? Sie könnte diese Fragen ebenfalls an die Schwarmintelligenz des Internets richten, doch sie tut es nicht.
All die leeren Blicke. All die leeren Versprechungen. Morgen wird alles besser, haben sie gesagt, doch wenn es kein Morgen mehr gibt, ist alles wurst. Als sie noch ein Kind war, mochte sie Wurst durchaus gerne, vor allem Wiener Würstchen. Sie liebte das leise Knacken, wenn die Wursthülle zwischen den Zähnen aufbrach. Sie ist nicht sicher, ob sie aufhörte, Wurst zu mögen, als sie aufhörte, ein Kind zu sein. Doch eigentlich ist es ihr wurst.
Sie glaubt nicht an Gott, doch wenn sie an tote Menschen denkt, schaut sie häufig nach oben. Nur bei Begräbnissen geht ihr Blick zum Boden, zur Erde, jene Erde, die den toten Menschen in sich aufnimmt. Wahrscheinlich ist man nicht mehr frischtot, wenn man begraben wird, vermutet sie, und dann denkt sie an die Würmer. Die Würmer, die sich durch die Erde wühlen, werden dereinst vielleicht von einem Vogel gefressen, und der Vogel fliegt durch die Luft, er zwitschert am frühen Morgen, er lässt Kot auf Autodächer fallen, und irgendwann zeugt der Vogel Nachwuchs, und dann liegen die Eier im Nest, werden gewärmt, bis die Küken schlüpfen, und eines davon, warum auch immer, fällt aus dem Nest und auf den Asphalt, und jemand findet den kleinen Vogel, kniet sich neben ihn hin und redet auf ihn ein. Doch Worte können den Vogel nicht retten.

Sie hat es versucht. Sie hatte Mitgefühl mit dem kleinen Spatzen, aber vielleicht war es auch ein Amselkind?
Lieber Gruß von Bruni
LikeGefällt 1 Person
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, liebe Bruni! Herzliche Grüsse zurück…
LikeLike