Am Straßenrand hängt ein junger Mann an einem Kreuz, die Arme ausgebreitet, den Kopf leicht abgewinkelt. An den Handflächen ist das Blut eingetrocknet, dunkle Flecken umranden die Stellen, an denen man ihm die Nägel durch das Fleisch getrieben hat. Sein Gesicht sieht traurig aus.
Sie steigt von ihrem Fahrrad, lehnt es an die Leitplanke und setzt sich auf das kantige Metall. Sie blickt hinauf zum jungen Mann und mustert seinen Körper. Er ist schlank, mager sogar, die Rippen zeichnen sich unter der Haut ab. Manchmal will man einfach ein bisschen rumhängen, nicht wahr?, hört sie sich sagen und muss ein wenig grinsen, als ob jemand anders die dummwitzige Frage gestellt hätte und nicht sie selbst. Der Mann bleibt stumm, und einen Moment lang nimmt sie ihm sein Schweigen übel, obwohl sie weiß, dass er nicht anders kann. Hin und wieder wäre sie froh darüber, jemanden wie eben diesen jungen Mann in ihrem Leben zu wissen, jemanden, auf den sie sich verlassen könnte, jemanden, der einfach da wäre, auch wenn sie ihn nicht sehen könnte. Doch der junge Mann spielt keine Rolle in ihrem Leben, und falls er tatsächlich gelebt haben und gestorben sein sollte, dann bestimmt nicht für sie.
Sie blickt nach oben ins helle Blau. Zwei Stunden zuvor dachte sie, dass das Wetter viel zu schön sei für eine Beerdigung, und noch immer wirkt die Sonne seltsam fehl am Platz. Es hätte regnen müssen, zumindest graue Wolken hätten über den Köpfen der Zurückgebliebenen hängen müssen, doch nur einige weiße Fetzen trieben über den Himmel. Es ist das falsche Wetter. Das falsche Wetter für einen Tag, der kaum etwas Richtiges kennt.
Der Mann hängt an seinem Kreuz und sie sitzt auf der Leitplanke, und gemeinsam schweigen sie die Welt an. Sie weiß nicht, wievieltausend Wörter sie kennt, aber im Moment ist jedes Wort das falsche, keines passt, keines gehört hierhin. Ein Lastwagen fährt vorüber, und als die dröhnende Hupe ertönt, zuckt sie zusammen und fällt beinahe von der Leitplanke. Erst als sie dem Lastwagen nachschaut, fällt ihr auf, dass ihr Fahrrad umgekippt ist und auf der Straße liegt. Darum wohl das Hupen, denkt sie und stellt das Fahrrad wieder auf. Sie setzt sich wieder auf die Leitplanke, blickt wieder hinauf zum starren Körper über ihr.
Er ist kaum bekleidet, der Mann am Kreuz, seine Haut ist weiß, an einigen Stellen sind Kanten und Rundungen abgesplittert. Wäre er echt, würde sie ihn gerne umarmen, so hager und armselig wirkt seine gesamte Erscheinung. Sie berührt eines seiner Schienbeine und ist erstaunt, wie kalt es ist. Sie lässt die Finger über die glatte Oberfläche gleiten und stellt sich vor, dass er es spüren könnte. Er kann ihr nichts geben, davon ist sie überzeugt, und dennoch fragt sie sich, wie es wäre, wenn er es könnte. Wenn sie Trost finden würde dank ihm. Keine Antworten, keine Erklärungen, aber zumindest Trost. Oder etwas Ähnliches. Sie starrt auf einen seiner Füße. Alle Zehen sind abgebrochen. Auch hier fehlt etwas, denkt sie. Immerhin. Dann senkt sie den Blick, lässt ihren Kopf ein wenig zur Seite kippen, beinahe so wie jener des Mannes am Kreuz, und gemeinsam schweigen sie die Welt an.
Später, sehr viel später, tauchen am Horizont hohe Wolken auf, werden immer grösser und zahlreicher. Vielleicht kommt der Regen doch noch, denkt sie, doch eigentlich ist es ihr egal. Der Regen würde nichts ändern können. Der Regen ist nur Wasser, das vom Himmel fällt. Sie nimmt das Fahrrad von der Leitplanke und steigt auf den Sattel. Bevor sie weiterfährt, blickt sie sich noch einmal um. Der Mann hängt weiterhin still und schweigend an seinem Kreuz.
Sie stellt sich vor, wie er herabsteigen und sich auf den Gepäckträger ihres Fahrrads setzen würde, damit sie gemeinsam bis zum Horizont und immer weiter fahren könnten. Sie würde so heftig in die Pedale treten, dass ihrem Mitfahrer ein Jauchzen entfliehen würde, befeuert von Angst und Euphorie in gleichem Masse. Sie würden so schnell und so weit fahren, bis alles Denken und Fühlen aus ihren Körpern entwichen wäre. Dann würden sie anhalten und weiterhin die Welt anschweigen, während die ersten Tropfen aus den Wolke fallen würden.
Ein weiterer Lastwagen rast hupend vorbei und reißt sie aus ihren Gedanken. Sie fährt los und lässt den stillen Mann allein zurück. Er schaut ihr nach. Sein Gesicht sieht traurig aus.

Schön, das erinnert mich ein bisschen an Achternbuschs Gespenst
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Müsste ich mir dann wohl bei Gelegenheit mal anschauen… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Gerne, du kannst das auf Youtube anschauen, habe ich auch gemacht. Inteligente Sponti Satiere: https://youtu.be/7WzhrUQyAN4
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Oh, danke für den Link! Schau ich mir gern mal an!
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👍
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Gerne
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