Früher war hier mal ein Schuppen. Dunkelgrau und nahezu fensterlos, schlicht und einfach. Er sah schon aus weiter Ferne verstaubt und müde aus, wie ein altersschwaches Tier auf einer kargen Wiese, umgeben von trauernden Bäumen. Wenn man beim Näherkommen aber auf die Empfindungen der Haut achtete, konnte man spüren, wie eine seltsame Wärme vom Schuppen ausging, so wie man auch mit geschlossenen Augen erkennt, wenn man direkt neben einem lebenden Körper liegt. Nicht nur aufgrund der Wärme übte der Schuppen eine Anziehungskraft aus, der man sich kaum zu entziehen vermochte, obwohl diese Anziehungskraft sich offenbar nur auf Kinder auswirkte. Die Erwachsenen schienen davon unberührt. Sie mieden und ignorierten den Schuppen, und einige von ihnen untersagten den Kindern ausdrücklich, in die Nähe des Schuppens zu gehen oder ihn gar zu betreten. Doch in Bezug auf den Schuppen hatten die Verbote selbst bei den ansonsten folgsamen Kindern nicht die gewünschte Wirkung.
Wenn man durch die niedrige Tür ging, veränderte sich die Luft schlagartig, wurde warm und trocken und still. Der Staub hockte in jedem Winkel, haftete an Wänden und an den vereinzelten Fenstern. Die Kinder störten sich nicht am Staub, selbst dann nicht, als der kleine Daniel behauptete, dass Staub aus toten Menschen gemacht werde. Es spielte auch keine Rolle, ob dies tatsächlich stimmte oder nicht. Der Staub machte den Schuppen nur noch geheimnisvoller und interessanter.
In einer Ecke des Schuppens gab es einen separaten Raum, der in der Höhe zweigeteilt war, und wenn man in den oberen Teil kroch, war man geschützt und sicher vor der Welt, noch geschützter und sicherer als im Rest des Schuppens. Der Staub, diese mutmaßlichen Überreste toter Menschen, haftete sich an die kleinen Körper, und trotzdem fühlte man sich geborgen. Draußen hätten Bomben und Brände wüten können, doch im Schuppen konnte den Kindern nichts passieren, und in jenem Versteck im separaten Raum war man so gut aufgehoben wie wohl nur damals vor dem Dasein, im Bauch der Mutter.
Wie sehr man sich damals den Gesetzen von Zeit und Logik widersetzte, erkannte man erst, als der Schuppen längst verlorengegangen war. Irgendwann ließen die rätselhafte Wärme und die Anziehungskraft des Schuppens nach, wie wohl jeder Zauber der Kindheit allmählich an Wirkung einbüßt. Es war keine bewusste Entscheidung, nicht mehr zum Schuppen zu gehen. Auch war es kein graduelles Loslösen, es gab keinen Abschied, keinen Rückzug. Erst als man hörte, dass der Schuppen abgebrochen worden war, spürte man ein leichtes Knacken im Herzen.
Heute steht hier eine Fabrik. Auch sie ist dunkelgrau und nahezu fensterlos, schlicht und einfach. Es ist ein Betonblock, plump und trist. Hinter den kalten Mauern stehen riesige Maschinen, die andere Maschinen herstellen. Gearbeitet wird hier nur noch selten, die meisten Produktionsschritte wurden ausgelagert, die übriggebliebenen Arbeiter rauchen mehr selbstgedrehte Zigaretten, als sie eigentlich möchten. Wenn man hineinschaut durch eines der schmalen Fenster, sieht man die leblosen Maschinen, waidwunde Körper in einer industrialisierten Einöde. Staub liegt auf den metallenen Oberflächen und den Abdeckungen aus Kunststoff und Glas, und einen Moment lang fragt man sich, ob auch dieser Staub aus toten Menschen gemacht wurde. Und wer diese Menschen eigentlich waren.
