Ein Sturm zieht auf. Draußen auf dem kleinen Platz zwischen den Häusern stehen Männer und ziehen an ihren Zigaretten und sie zieht die Vorhänge zu und zieht sich zurück ins Schlafzimmer und zieht sich aus. Ganz langsam zieht sie sich aus, sie hat keine Eile, die Zeit zieht sich hin, zieht Fäden wie flüssiger Käse. Sie mag Käse nicht sonderlich und sie mag es nicht, wenn er Fäden zieht, zum Beispiel auf der Pizza Fäden zieht, das sieht immer sehr seltsam aus, wenn der Käse beim Pizzaessen Fäden zieht, man senkt dann den Kopf, neigt ihn ein wenig zur Seite, als wolle man dem Pizzastück und dem fädenziehenden Käse von unten Herr werden, oder Frau werden, denn ja, auch Frauen essen Pizza, auch dann, wenn der Käse Fäden zieht, doch eigentlich mag sie gar nicht an Käse denken. Sie zieht sich weiter aus und fragt sich, warum sie dabei an Käse denkt, und während sie ihren dünnen Pullover über den Kopf zieht, versucht sie, an etwas anderes zu denken und landet bei den Männern, die draußen auf dem kleinen Platz zwischen den Häusern stehen und an ihren Zigaretten ziehen. Irgendwie ziehen die Männer sie an, obwohl sie gar nicht sonderlich anziehend aussehen, sie sehen aus, wie Männer eben aussehen, die draußen auf einem kleinen Platz zwischen den Häusern stehen und an ihren Zigaretten ziehen, während über ihnen und um sie herum ein Sturm aufzieht, doch die Männer kümmert der aufziehende Sturm nicht, und vielleicht findet sie die Männer deshalb so anziehend, der Sturm, er ist ihnen gleichgültig, er ist ihnen egal, und wenn er dann über sie hinwegzieht, ziehen sie sich vielleicht ein wenig zurück, stehen unter ein Vordach oder in einen Hauseingang, und dort ziehen sie dann weiter an ihren Zigaretten, während der Wind immer heftiger weht, und das macht sie vielleicht so anziehend, sie lassen sich von einem Sturm nicht beirren, sie lassen ihn einfach vorüberziehen, lassen die Tage an ihnen vorüberziehen, die Zeit, sie zieht an ihnen vorbei, und sie, diese Männer, sie schauen lediglich zu, ziehen an ihren Zigaretten, ziehen vielleicht auch mal den Rotz durch die Nase, obwohl das, also die Sache mit dem Rotz, nun wirklich nicht sonderlich anziehend wirkt.
Ein Sturm zieht auf, und sie zieht ihre Jeans aus, noch immer ganz langsam, sie hat keine Eile, die Zeit zieht sich hin, und sie zieht ihre Jeans aus, zieht sie über die Schenkel und über die Füße, und dann zieht sie auch die Socken aus, zuerst die rechte und dann die linke, sie beginnt immer rechts und hört links auf, ob sie nun Socken auszieht oder Socken anzieht oder Schuhe anzieht oder Schuhe auszieht, immer beginnt sie rechts, nur manchmal macht sie es bewusst anders, beginnt vollkommen vorsätzlich mit dem linken Schuh oder der linken Socke, und jedes Mal, wenn sie beim Ausziehen auf der linken Seite beginnt, fühlt es sich falsch an, sie fühlt sich unwohl, irgendwie unsicher, und beim nächsten Mal zieht sie es vor, wieder den rechten Schuh oder die rechte Socke zuerst auszuziehen, auch jetzt zieht sie zuerst die rechte Socke aus und dann die linke, sie kann diese Sicherheit der Gewohnheit im Moment gut gebrauchen, und dann trägt sie nur noch ihren BH und ihre Unterhose, eine alte Baumwollunterhose, einige Nähte sind längst aufgerissen, der Stoff ist dünn geworden, doch sie mag die Baumwollunterhose, fühlt sich wohl darin und mag sich nicht trennen. Sie zieht die Baumwollunterhose nicht aus, doch den BH, den hakt sie auf, lässt ihn aufs Bett fallen, und dann steht sie auf, geht zurück ins Wohnzimmer und hin zum Fenster, schaut zwischen den zugezogenen Vorhängen hindurch zu den Männern, die noch immer draußen auf dem kleinen Platz zwischen den Häusern stehen und an ihren Zigaretten ziehen, und sie steht oben, steht am Fenster, fast komplett ausgezogen, nur die alte Baumwollunterhose trägt sie noch, und sie überlegt, ob sie die Vorhänge zur Seite ziehen soll. Die Männer draußen auf dem Platz, sie könnten sie dann sehen, zumindest dann, wenn sie nach oben schauen würden, sie könnten sie sehen, beinahe nackt, könnten ihre Brüste sehen und die helle Haut, und wenn sie außergewöhnlich gute Augen hätten, könnten sie sogar die Narbe am Bauch sehen, doch wahrscheinlich haben die Männer keine außergewöhnlich guten Augen, sie brauchen eigentlich auch keine außergewöhnlich guten Augen, es braucht keine außergewöhnlich guten Augen, um draußen auf dem kleinen Platz zwischen den Häusern zu stehen und an Zigaretten zu ziehen, und sie fragt sich, ob die Männer sie anziehend finden würden, wenn sie nach oben schauen und sie sehen würden, sie und ihren Körper, sie fragt sich, ob sie einen Moment aufhören würden, an ihren Zigaretten zu ziehen und einfach schauen würden, sie und ihren Körper anschauen würden, und sie wundert sich, ob das eigentlich zwei verschiedene Dinge sind, sie und ihr Körper. Sie blickt hinab zu den Männern, die unbeirrt an ihren Zigaretten ziehen, doch die Vorhänge, die zieht sie nicht zur Seite.
Ein Sturm zieht auf, immer bedrohlicher ziehen die schwarzen Wolken über den Himmel, und sie hat Angst, nicht vor dem aufziehenden Sturm, auch nicht vor den Männern, die draußen auf dem kleinen Platz zwischen den Häusern an ihren Zigaretten ziehen, nein, sie hat Angst vor der Zeit, die vorüberzieht, draußen und um sie herum vorüberzieht, an ihr vorüberzieht, an ihr und ihrem Körper, diesen zwei womöglich verschiedenen Dingen, und sie befürchtet, dass sie nicht mithalten kann, wenn die Zeit an ihr vorüberzieht, und sie befürchtet, dass ihr Körper nicht standhalten kann, wenn die Zeit an ihm vorüberzieht; sie befürchtet, dass sie und ihr Körper den Kürzeren ziehen werden gegen die vorüberziehende Zeit, nein, sie weiß, dass sie und ihr Körper den Kürzeren ziehen werden, gegen die vorüberziehende Zeit kann man nur den Kürzeren ziehen, gegen die vorüberziehende Zeit kann man nicht viel machen.
Ein Sturm zieht auf, und sie blickt nach oben, zum Himmel, der immer dunkler wird von den schwarzen Wolken, die ihn überziehen wie ein Virus, wie eine Krankheit, die um sich greift und einen Körper mit dunklen Flecken überzieht, nicht ihren Körper, denn ihr Körper ist gesund, trotz der Narbe am Bauch, nein, einen anderen Körper, und während die Wolken am Himmel einen Körper mit dunklen Flecken überziehen, fragt sie sich, woher die ganze Angst überhaupt kommt, sie fragt sich, weshalb sie die vorüberziehende Zeit so sehr fürchtet, wo es doch weitaus schlimmere Dinge gibt, die sich zu fürchten lohnten, es gibt unzählige Variationen davon, den schwarzen Peter zu ziehen, es gibt beinahe grenzenlose Möglichkeiten, die Arschkarte zu ziehen, und die Tatsache, dass die Zeit vorüberzieht, ist keine gezogene Arschkarte, sondern etwas, das allen passiert, ihr selbst und ihren Eltern und ihren Arbeitskolleginnen und den Frauen aus der Yogaklasse und auch den Männern, die draußen auf dem kleinen Platz zwischen den Häusern an ihren Zigaretten ziehen, an ihnen allen zieht die Zeit vorüber. Sie geht zum Kleiderschrank, nimmt ein T-Shirt heraus und zieht es an, geht zum Fenster und zieht die Vorhänge zur Seite, energisch, schwungvoll, beinahe theatralisch, und dann blickt sie hinunter, zu den Männern, die draußen auf dem kleinen Platz zwischen den Häusern an ihren Zigaretten ziehen, und keiner von ihnen schaut nach oben, aber sie schaut nach unten, und einen Moment lang ist sie eine von ihnen. Zwar steht sie oben am Fenster und nicht unten auf dem kleinen Platz, doch in diesem Moment lässt auch sie die Zeit einfach vorüberziehen, wie die Männer mit ihren Zigaretten lässt sie die Zeit vorüberziehen. In diesem Moment sträubt sie sich gegen ihre üblichen Befürchtungen, widersetzt sich der dummen alten Angst. In diesem Moment lässt sie die Wolken über den Himmel ziehen, ohne gleich an eine Krankheit oder einen Virus zu denken. Diesen Moment, sie zieht ihn in die Länge, sie zieht mit aller Kraft an seinen Kanten, sie dehnt ihn aus, so weit wie es nur geht.
Ein Sturm zieht auf, aber diesen einen Moment lang lässt sie sich davon nicht beirren, sie lässt ihn einfach vorüberziehen, den Sturm, und der Sturm zieht die Zeit mit sich, Sturm zieht Zeit, der Sturm zieht die Zeit, und die Zeit, sie zieht vorüber, gemeinsam mit dem Sturm, und sie, sie schaut lediglich zu. Schaut hinaus, schaut zu den Männern, dort draußen auf dem Platz, zwischen den Häusern, wie sie an ihren Zigaretten ziehen. Die Zeit zieht vorüber, und sie lässt sie ziehen, ohne sich mitziehen zu lassen, und dabei zieht sie diesen Moment weiterhin in die Länge, jenen Moment ohne Zeit, jenen Moment, in welchem sie sich der Zeit entzieht. Und während sie nach draußen schaut, denkt sie, wie schön es dort aussieht. Die dunklen Wolken am Himmel. Der vorüberziehende Sturm. Die Männer. Der Platz. Die Häuser. Das Aufleuchten der Zigaretten, wenn die Männer an ihnen ziehen. Das sieht schön aus, denkt sie. Dann beginnt es zu regnen. Dicke Tropfen lösen sich aus den dunklen Wolken und fallen hinab, prallen auf den Platz und auf die Häuser und auf die Männer, und die Männer, sie ziehen sich zurück, stellen sich unter ein Vordach oder in einen Hauseingang, und dort ziehen sie dann weiter an ihren Zigaretten, während der Wind immer heftiger weht und der Regen immer tobender prasselt, der Sturm, er zieht jegliche Energie aus der Welt, zieht alles auf sich, der Sturm, er schlägt um sich mit peitschenden Böen, zerrt an den Bäumen und den Verkehrstafeln, drückt gegen die Fenster und Türen, und dann, dann ist der Sturm vorüber, und auch der Moment ist vorüber, jener Moment ohne Zeit, sie hat ihn nicht weiter dehnen können, hat ihn loslassen müssen, und jetzt, da der Moment vorüber ist, merkt sie, wie die Zeit wieder nach ihr greift, und schließlich ziehen die Wolken weiter und die Zeit zieht weiter ihre Runden, und sie, sie steht am Fenster und blickt hinaus, während die Zeit an ihr vorüberzieht, an ihr vorüberzieht und sie dabei mitzieht, sie und ihren Körper, diese zwei womöglich verschiedenen Dinge, und sie weiß, dass sie nicht mithalten kann, sie weiß, dass ihr Körper nicht standhalten kann, und sie weiß, dass sie und ihr Körper den Kürzeren ziehen werden, gegen die vorüberziehende Zeit kann man nur den Kürzeren ziehen, gegen die vorüberziehende Zeit kann man nicht viel machen.
Draußen auf dem kleinen Platz zwischen den Häusern stehen die Männer und ziehen an ihren Zigaretten. Die Zeit zieht vorüber, die Zeit zieht vorbei, und sie, sie zieht die Vorhänge zu.

Dieser Text entstand für das Herbst-Sturm-Lesen in Gais AR.
Das zieht sich ganz schön. Aber in diesem Fall im positiven Sinne… 🙂
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Vielen lieben Dank dir fürs Mitziehen und für deine Worte!
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Immer wieder gern. 🙂
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Unglaublich wie schön es sich liest mit den unzähligen Wiederholungen.
Ist dir gut gelungen Ralf.
LG, Nati
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Vielen herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Nati!
Beste Grüsse zurück…
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Dankeschön. 🙂
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Der ist sehr schön und sehr tiefgründig.
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Vielen lieben Dank dir, das freut mich sehr! Herzliche Grüsse…
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