Das Fenster zum Innenhof ist geöffnet, wie an den meisten Tagen. Nur wenn der Wind zu ungestüm weht oder es eisig kalt ist, lässt sie das Fenster geschlossen. Heute ist es warm, viel zu warm für den Herbst.
Der Innenhof, er ist meistens bis in den hintersten Winkel gefüllt mit Klang. Resolutes Pfannengeklapper, dumpfes Stimmengewirr, sporadisches Husten, surrende Küchenmaschinen, aufgeregte Kinderschreie, ein plärrendes Radio – alles vermengt sich zu einem Konglomerat aus Geräuschen, zu ihrem ganz eigenen Soundtrack des Lebens in diesem großen Haus. Die Geräuschkulisse des Innenhofs variiert und verändert sich stetig. Der Sommer klingt anders als der Winter. Am Abend werden die Frequenzen tiefer. Sonntage sind ruhiger als Samstage. Manche Geräusche sind Irritationen, stören im Gesamtklang. Andere sind elementar für das akustische Bild des Innenhofs, für den Charakter des Hauses. Und während sie darüber nachdenkt, fällt ihr auf, dass schon lange niemand mehr Klavier spielt.
Früher war es fast jeden Tag zu hören. Jemand spielte Klavier. Manchmal wirkte es ganz beiläufig, wie hingemalte Pinselstriche im Klangteppich. Dann wieder glich das Klavierspiel einem kleinen Konzert, und die Menschen im Haus waren das organische Publikum. Bisweilen wurden nur einige Tasten angeschlagen. Und hin und wieder war es das ergreifendste Klavierspiel, das sie je gehört hatte. Sie kannte keines der gespielten Stücke, doch jedes einzelne war berührender als die bekannten Klassiker, ungleich schöner als Air oder Für Elise oder Beethovens Mondscheinsonate. Einige Male trieben ihr die Klavierklänge Tränen in die Augen, und in diesen Momenten zeigte die Welt eine Anmut, die sonst im Verborgenen blieb.
Sie wusste nicht, aus welcher Wohnung das Klavierspiel kam, hatte auch keine Vermutung, welcher der Nachbarn dazu in der Lage war. Wenn sie sich vorstellte, wer da Klavier spielte, war es stets eine Unbekannte, die sie vor sich sah, eine junge Frau, die sie noch nie gesehen hatte, schüchtern und zierlich, mit langen Locken und zarten Fingern, und diese Frau wohnte in einer Wohnung, zu der es kein Klingelschild gab. Dennoch war sie da, sie und ihre Klavierstücke waren essenzielle Elemente des Hauses, und das Haus war wärmer, weil ihre Klaviertöne den Innenhof belebten.
Jetzt spielt niemand mehr Klavier, und sie fragt sich, seit wann das Klavierspiel ausgeblieben ist. Womöglich ist es schon Wochen her, dass die Klaviertöne letztmals durch den Innenhof schwebten, und dieser Gedanke betrübt sie. Da ist eine Leerstelle in der Geräuschkulisse, eine große Lücke an einer wichtigen Stelle, und sie bemerkt es erst jetzt. Sie denkt an ein Zitat, dass sie einst auf einem Zuckersäckchen gelesen und verinnerlicht hat. Glück ist etwas, das man zum ersten Mal wahrnimmt, wenn es sich mit großen Getöse verabschiedet. Sie weiß nicht mehr, wer der Urheber dieser Worte war, doch es ist egal. Das Getöse, es hat nicht stattgefunden, und der Abschied war kein richtiger Abschied, nur ein Wegbleiben.
Vielleicht ist der klavierspielenden Person etwas zugestoßen. Vielleicht ist sie lediglich in Urlaub. Vielleicht ist sie ausgezogen. Vielleicht ist das Klavier schon morgen wieder zu hören. Vielleicht bleibt es für immer stumm. Sie weiß es nicht. Und dass sie es nicht weiß, lässt den Raum um sie herum kurz ins Wanken geraten. Sie hält sich am Fensterrahmen fest. Sie blickt hinaus auf den Innenhof. Sie lauscht und lauscht und lauscht. Doch niemand spielt Klavier.

Die Wehmut von etwas Verlorenem ergreift uns je älter wir werden täglich mehr. Deine Geschichte zeigt es so anrührend und nachfühlen.
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(Werden wir denn sensibler und wehmütiger mit der Zeit, oder ist da einfach stetig mehr, das verloren geht und gegangen ist?)
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Wie schade, daß das Klavierspiel nicht mehr zu hören ist,
der Innenhof wirkt nun lebloser, weil ein wichtiger Teil des Hausorchesters fehlt …
Was mag da geschehen sein?
Vielleicht gab es einen Umzug, den sie nicht mitbekommen hat
und die Pianistin und ihr Klavier spielen nun an einem anderen Ort.
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Wer weiss? Aber ja, es fehlt etwas, dessen Wert sich vielleicht erst beim Fehlen zeigt…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und herzliche Grüsse…
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Danke, diese Geschichte berührt mich persönlich sehr, weil meine Tochter immer jede frei Minute am Klavier saß und die schönsten oft unbekannten Melodien gespielt hat. Weil sie aber jetzt krank ist, spielt sie fast gar nicht mehr und da fühle ich mich genauso wie deine Frau..
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Das tut mir sehr leid, dass du dich so fühlen musst. Ich hoffe, die Klavierklänge werden wieder mehr… Ich wünsche dir und euch viel Kraft und danke dir von Herzen fürs Lesen und für deine Worte!
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Danke, das ist sehr lieb von dir.
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