Eva erschrickt, als es kurz nach dem Eintreten hell wird im Flur. Die Wohnung der alten Anna ist generell schlecht beleuchtet, doch der Eingangsbereich ist zweifellos die dunkelste Stelle von allen, zumindest bis anhin. Jetzt hängt da eine kleine Lampe an der Wand, wahrscheinlich batteriebetrieben, eine kleine Kunststoffkugel lässt auf einen Bewegungsmelder schließen, was wiederum das unerwartete Hellwerden erklärt. Eva mustert die Leuchte, zieht Jacke und Schuhe aus und geht dann ins Wohnzimmer, wo Anna wie gewohnt auf dem Sofa sitzt, die Hände im Schoss, das Gesicht von einer unverhohlenen Erwartungsfreude geschmückt.
«Meine liebe Eva. Schön, dass du da bist.»
«Ich freue mich auch.»
«Möchtest du einen Cognac?»
«Ist es nicht ein wenig früh?» fragt Eva. «Für mich ist es jedenfalls zu früh.»
Anna schenkt sich dennoch einen Cognac ein, denn Anna trinkt gerne Cognac, und das Zeitgefühl ist ihr längst abhandengekommen, ohne dass sie es zu vermissen scheint. Sie hebt das Glas mit ihren zittrigen Fingern hoch, nimmt einen kleinen Schluck, stellt es vorsichtig auf den Beistelltisch und beginnt zu reden.
Sie sei ein wenig müde, entschuldigt sich Anna, sie habe schlecht geschlafen, sei immer wieder aufgewacht, von Gedanken geplagt, mit rasendem Puls. Sie mache sich solche Sorgen, um die Welt natürlich, aber vor allem um Hugo. Sie habe ja schon viel erlebt mit ihm, schließlich seien sie ja bereits seit ewigen Jahren verheiratet, aber so schlimm wie im Moment sei es noch nie gewesen. Hugo habe wieder sein Delirium gehabt, sagt Anna und kleidet das Wort Delirium in ein Flüstern, als existierte ein Verbot, es laut auszusprechen. Er habe gezittert und gesagt, dass er nun sterben müsse. Sie habe ihn dann beruhigt, habe mit ihm geredet, ihm erklärt, dass er keine Angst haben müsse, dass alles in Ordnung sei, aber Hugo habe nicht auf sie gehört, und während Anna das sagt, verändert ihre Stimme ihren Klang ein wenig, die Augen weiten sich.
Eva besucht Anna schon seit etwa zwei Jahren regelmäßig, aber noch immer ist sie nicht sicher, was sie in solchen Momenten sagen soll. Sie mag der alten Frau nicht erklären, dass ihr Hugo nicht mehr lebt, und obwohl sie nicht versteht, wie Anna in der Lage ist, sich ein solches Trugbild der Situation zu basteln, will es Eva nicht wieder dekonstruieren. Manchmal hakt sie nach, manchmal lenkt sie ab, und manchmal nickt sie einfach, so auch jetzt.
Sie wisse gar nicht, wo Hugo im Moment sei, erklärt Anna. Wahrscheinlich schlafe er, oder er mache einen Spaziergang. Das sei ja auch wichtig, er müsse sich schließlich erholen, müsse zu Kräften kommen. Das Delirium nehme ihn stark mit, und außerdem trinke er ja hin und wieder etwas zu viel, also zu viel Alkohol, und dieses Mal ist nicht das Delirium geflüstert, sondern der Alkohol, und dann nimmt Anna einen weiteren Schluck von ihrem Cognac.
«Du hast eine neue Lampe im Flur», sagt Eva, in der Hoffnung, Annas Gedanken von Hugo wegzulocken.
«Ja, sie ist toll, nicht wahr? Sie merkt, wenn man sich bewegt, und schaltet sich automatisch ein. Dreißig Sekunden später erlischt sie wieder.»
«Wie praktisch.»
«Ja, nicht wahr? Hugo hat sie aufgehängt. Er meinte, man müsse doch etwas sehen im Flur, das gehe nicht, dass es dort so dunkel sei. Zunächst fand ich es unnötig, aber jetzt bin ich froh darüber.»
«Hugo hat sie aufgehängt?»
«Ja, hat er. Vor ein paar Tagen.»
Eva sieht sich um, als würde sie erwarten, dass jemand in den Raum kommen und die Situation aufklären würde. Doch niemand kommt, und Evas Blick bleibt am Sekundenzeiger der alten Wanduhr hängen.
«Das kann ich kaum glauben.»
«Doch, es ist so», erwidert Anna. «Hugo ist ziemlich geschickt mit seinen Händen. Zumindest dann, wenn er nicht gerade… du weißt schon… ein Delirium hat.»
«Aha.» Eva starrt auf die Tischplatte, auf das halbleere Glas, das vor Anna steht.
«Alles in Ordnung, meine liebe Eva?»
«Ja», antwortet Eva hastig und schiebt nach kurzem Zögern ein weiteres Ja hinterher.
«Wirklich?»
«Ja. Aber ich glaube, ich nehme jetzt doch auch einen Cognac.»
«Sehr schön», sagt Anna und lächelt. Dann holt sie ein weiteres Glas aus der Anrichte und füllt es auf.
«Prost, meine liebe Eva.»
«Prost, Anna.»

Berührend.🌼
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Vielen lieben Dank dir!
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Schön, danke
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Ich danke dir, fürs Lesen und fürs Schönfinden…
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Rührend, lieber Disputnik, Zeilen, die zu Herzen gehen …
LG vom Finbar
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Vielen Dank dir, lieber Finbar, fürs Lesen und für deine Worte. Freut mich sehr! Herzliche Grüsse zurück!
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