Hans will keine Füllwörter stehen sehen. Hans mag es nicht, wenn Sätze Ballast mit sich tragen. «Mehr ist nicht besser», sagt Hans. Mehr sagt er nicht.
«Aber», gibt man zurück, doch Hans vermeidet jegliche Reaktion. Also versucht man, sich etwas gewählter auszudrücken.
«Manchmal brauchen die Wörter doch ein wenig Beiwerk, brauchen Schmuck. Wenn man alles nur auf das Nötigste reduziert, kommt alles Besondere abhanden. Die Welt verliert ihre Farben, ihren Reichtum.»
Hans antwortet mit einem Schulterzucken.
«Die Sprache», fährt man fort, «hat eine ungemeine Kraft, kennt so vielfältige Wege und Möglichkeiten, die Dinge zu beschreiben und sie buchstäblich in Worte zu kleiden. Das ist doch wertvoll. Zum Beispiel deine Frau…»
«Was ist mit meiner Frau?» knurrt Hans. Seine Stimme klingt angriffsbereit.
«Naja, es ist doch ein Unterschied, ob du deiner Frau sagst, ihre Augen seien zauberhaft und erinnerten dich an die entwaffnende Klarheit eines unberührten Bergsees, oder ob du ihr einfach sagst: Du hast Augen.»
«Meine Frau hat keinen Bergsee in den Augen. Und überhaupt, Augen sind zum Rausschauen, nicht zum Reinschauen.»
«Aber manchmal braucht man doch ein paar Begriffe, um die Dinge zu beschreiben», erwidert man und versucht, die Irritation über die erschreckend rationale Bemerkung von Hans zu verbergen.
«Beim Beschreiben zeigt der Mensch einen Hang zum Übertreiben.»
«Vielleicht ist das Übertreiben ja gar nicht immer schlecht», sagt man. «Der große blaue Morpho übertreibt ja auch.»
Hans will wissen, wer der große blaue Morpho sei.
«Ein Schmetterling. Vielleicht der schönste Schmetterling der Welt.»
«Wer sagt das?»
«Das Internet.»
«Du hast das Internet gefragt, welcher der schönste Schmetterling der Welt ist?» will Hans wissen und gibt sich keine Mühe, den spöttischen Unterton zu verbergen.
«Ja.»
«Warum?»
«Damit ich argumentieren kann, dass mehr eben manchmal doch besser ist. Dass der große blaue Morpho es zwar übertreibt mit seiner zauberhaft blauen Farbe und seinen beeindruckenden Augen auf der Flügelunterseite, aber dass genau diese Aspekte den besonderen Reiz diese Schmetterlingsart ausmachen.»
«Ich mag die Madagaskar-Sonnenuntergangs-Motte lieber.»
«Die Madagaskar-Sonnenuntergangs-Motte?»
«Ja. Ist eine Motte. Kommt nur auf Madagaskar vor.»
«Und sieht aus wie ein Sonnenuntergang, nicht wahr?»
«Nein. Ist vor allem grün und schwarz. Die Oberseite der hinteren Flügel schimmert hingegen in allen Tönen, die das Farbspektrum enthält, weil sich auf den Flügeln besondere Schuppen befinden, durch welche das Licht auf unterschiedliche Weise gebrochen wird.»
«Ach ja?»
Man ist ein wenig sprachlos ob der plötzlichen Auskunftsfreude, und fragt Hans nach einigen Sekunden, ob er es denn nicht auch als ein wenig übertrieben erachte, wenn ein Schmetterlingsflügel in allen Farben schimmere.
«Nein. Die Natur übertreibt ja nicht. Der Mensch übertreibt, wenn er darüber spricht und schreibt.»
«Und das ist schlecht?»
«Ich bewerte nicht. Ich stelle nur fest.»
«Mehr als feststellen magst du also nicht?»
«Mehr ist nicht besser», sagt Hans. Mehr sagt er nicht.

Jetzt musste ich die Madagaskar-Sonnenuntergangs-Motte googeln, und was soll ich sagen? Sie ist wirklich wunderschön. Danke 🙂
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Ja, das ist sie… Vielen Dank dir fürs Lesen!
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