Diese Geschichte, sie handelt von Johanna, einer Frau, die viele Dinge wusste, und die meisten dieser vielen Dinge, die sie wusste, hatte sie von ihrem Vater gelernt. Nachdem ihre Mutter sich in einen irischen Straßenmusiker verliebt und das Weite gesucht hatte, waren Johanna und ihr Vater die kleinste Variante einer Familie geworden, und obwohl sich Johanna stets bewusst war, dass bei diesem Konstrukt ein ursprünglicher Teil weggefallen war, hatte sie nie das Gefühl, dass etwas fehlte. Ihr Vater pflegte zu sagen, man solle jeden Tag so leben, als wäre es der letzte. Johanna wusste, dass er diesen Spruch nicht erschaffen hatte, doch in ihren Augen war es seine Redewendung, seine Klugheit, seine Weisheit. Als Johanna erwachsen geworden war, zog sie in eine Drei-Zimmer-Wohnung, die aber nur einige hundert Meter von der Wohnung ihres Vaters entfernt lag, und die emotionale Nähe innerhalb jener kleinsten Variante einer Familie vermochte der größeren geografischen Distanz erfolgreich zu trotzen. Doch dann wurde der Vater krank, sehr krank. Über vier Jahre lang lag er im Bett, über vier Jahre lang lag er im Sterben. 1500 Tage, von denen jeder der letzte hätte sein können, es aber nur einer schließlich auch war. Endlich, sagte seine Schwester, Johannas Tante. Sie sprach von Erlösung, die Tante, sie sprach von Trost, von Seligkeit, doch Johanna konnte mit diesen Wörtern nicht viel anfangen. Sie hatte nun schon mehrere Jahre allein in ihrer Drei-Zimmer-Wohnung gelebt, doch erst nach dem Tod des Vaters zog die Einsamkeit bei ihr ein. Johanna schaffte sich einen Hamster an, doch der Hamster schaute nur blöd oder rannte unaufhörlich im Hamsterrad, ohne in ihr etwas auszulösen. Nach einigen Monaten gab sie den Hamster wieder weg und besorgte sich einen Gummibaum. Aber auch der Gummibaum vermochte das Loch nicht zu füllen, das durch den Verlust ihres Vaters entstanden war, was Johanna natürlich auch nicht erwartet hatte, schließlich waren weder Nagetiere noch Zimmerpflanzen dafür geschaffen, irgendwelche Löcher zu füllen. Trotzdem tat es Johanna weh, sich einzugestehen, dass diese ausgefranste Lücke in ihrem Herzen einfach offenbleiben würde. Irgendwann erzählte ihr jemand von einem Künstler, der durch die Bildhauerei den Tod seiner Tochter zu verarbeiten versuchte. Der Name des Künstlers entfiel Johanna unmittelbar wieder, doch die Idee, sie blieb haften. Als sie anfing, Bilder zu malen und Objekte aus Holz und Ton zu formen, erzählte Johanna niemandem davon. Sie funktionierte eines der drei Zimmer ihrer Drei-Zimmer-Wohnung zum Atelier um, doch wenn sie Besuch hatte, blieb die Tür zu diesem Zimmer stets verschlossen. Nachdem einige Werke entstanden waren, glaubte Johanna, bereit zu sein. An ihrem Arbeitsplatz nahm sie den gesamten Jahresurlaub. Ihren Freunden und Bekannten erzählte sie, dass sie einige Wochen wegfahren werde. Sie kaufte Vorräte ein, zog das Telefonkabel aus der Wand, schloss die Fensterläden. Dann begann Johanna zu arbeiten. Drei Wochen lang verbrachte sie jede wache Stunde in ihrem Atelier. Sie hämmerte und schliff, sie stieß und zerrte. Sie schwitzte und fluchte, sie wimmerte und weinte. Dann war es vollbracht. Im Atelier stand ein riesiger schwarzer Klumpen aus allen erdenklichen Materialien, kantig und grob, mit einem großen Loch in der Mitte, asymmetrisch und ausgefranst an den Rändern. Johanna trat einige Schritte zurück und betrachtete ihr Werk. Dass ihr Tränen in die Augen stiegen, versuchte sie durch die Freude über die vollendete Arbeit zu erklären, doch sie wusste, dass dies nicht einmal die halbe Wahrheit war. Johanna schaltete die Deckenlampe aus und öffnete die Fensterläden. Draußen war es beinahe unwirklich hell, und wie die Sonnenstrahlen ins Zimmer gelangten, erfassten sie den riesigen Klumpen in der Mitte des Raumes und füllten das große Loch auf. In jede Ritze drang das Licht, und das Objekt, es schien plötzlich zu brummen, zu vibrieren, ein eigenes Leben zu haben. Johanna legte ihre Hände an die ausgefransten Ränder des Loches und spürte, wie das Vibrieren und Brummen allmählich auf sie überging, ihren ganzen Körper erfasste und erbeben ließ. Sie schloss die Augen und lächelte und fühlte, wie ihr Gesicht weicher und wärmer wurde, so weich und warm wie schon sehr lange nicht mehr. Diese Geschichte, sie ist damit am Schluss angelangt. Diese Geschichte, sie ist aber nicht zu Ende. Diese Geschichte, sie geht immer weiter. Diese Geschichte, sie ist erfunden. Aber es bleibt die Hoffnung, dass sie wahr sein könnte.

WoW. Ich bin wirklich beeindruckt, wie Du mit wenigen Worten diese bedrückende Atmosphäre schaffst. Ganz toll! Lies Håkan Nesser, Barins Dreieck. Grüße
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Lieben Dank dir fürs Kompliment und den Lesetipp! Herzliche Grüsse zurück
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Sehr gerne!
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Eine zu Herzen gehende Geschichte, lieber Disputnik,
und die Lücke wird mit Licht und Liebe gefüllt… Mehr braucht es im Moment nicht
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Vielen Dank dir, liebe Bruni, freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt! Herzliche Grüsse und frohe Ostern!
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Dir auch, lieber Ralf!
Liebe Grüße von mir
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