In Gedanken legt er seine Hand auf ihren nackten Bauch, der Nabel verschwindet, doch die Muttermale bleiben, hingestreute Punkte, kleine und große, und dann schaut er zu, wie seine Finger zu wachsen beginnen, immer länger werden, sich strecken und über ihre Haut kriechen, über ihre Rippen hin zu ihren Brüsten, dann zu den Schultern und zum Hals. Immer hungriger werden die Finger, immer weiter greifen sie um sich, aber sie bleibt zunächst vollkommen still und ungerührt, scheint tief zu schlafen. Dann jedoch bemerkt er ein leichtes Zucken, sie wird unruhig und bewegt sich unentwegt. Ihre Lippen zittern leicht, schließlich formen sie sich zum Ansatz eines Lächelns. Seine Finger streben weiter über ihren Körper, wie die Triebe eines wuchernden Gehölzes, hüllen sie immer mehr ein, und je mehr sie sich zu bewegen versucht, desto weniger gelingt es ihr, sie ist eingeengt und zurückgebunden, und mit jeder Sekunde werden die Fesseln enger. Das Lächeln ist wieder von ihrem Gesicht verschwunden und hat einer verkrampften Starrheit Platz gemacht. Er versucht, seine Finger zu lösen, doch er hat keine Kontrolle über sie, kann lediglich zusehen, wie sie ihre Körper weiter überwuchern, bis keine Haut mehr freiliegt.
Als sie sich nicht mehr rührt und er sich nicht mehr bewegen kann, schreckt er hoch und reißt die Augen auf. Er sitzt auf dem Sofa, vor ihm steht der Fernseher, und auf dem Bildschirm brüllen sich eine Frau und ein Mann unaufhörlich an. Er weiß nicht mehr, was er sich hatte ansehen wollen, aber es war mit Bestimmtheit nicht das keifende Paar. Er schaltet den Fernseher aus, steht auf und geht in die Küche. Eine angebrochene Weinflasche steht auf dem Tisch, noch eine Handbreit gefüllt. Er trinkt die Flasche leer und wischt sich mit dem Handrücken den Mund ab. Er betrachtet die Weinetikette, ohne sie zu lesen. Er geht ins Bad und putzt seine Zähne, er wäscht sein Gesicht und starrt es danach lange im Spiegel an, ist ein wenig irritiert, wie fremd gewisse Teile davon auf ihn wirken. Er versucht ein Grinsen, lässt es dann aber bleiben und geht ins Schlafzimmer.
Sie schläft bereits, und weil er sie nicht wecken will, lässt er das Licht ausgeschaltet. Er kennt sich gut aus in ihrem Schlafzimmer, könnte sich auch blind orientieren, im Dunkeln sowieso, muss nur manchmal ein wenig um sich tasten. Doch nun gebärdet er sich ungewohnt ungeschickt, ist unachtsam und stößt sich heftig das Knie an einer Kommode. Der Knall ist überraschend laut, und er hört, wie sie erschrocken aufstöhnt. Sie wird höchstens zur Hälfte wach, und nach einem seltsamen Japsen murmelt sie einen Namen. Paul? Dann verstummt sie wieder. Paul ist ein dämlicher Name, denkt er, so plump und kurz. Er ist froh darüber, dass er nicht Paul heißt. Weniger froh ist er darüber, dass sie diesen Namen gesagt hat.
Einige Minuten lang steht er stumm in der Dunkelheit des Schlafzimmers, hört ihr beim Atmen und Schlafen zu. Dann kriecht er neben sie ins Bett und dreht ihr den Rücken zu. In Gedanken legt er seine Hand auf ihren nackten Bauch, der Nabel verschwindet, doch die Muttermale bleiben, hingestreute Punkte, kleine und große. Dann schläft er ein.

Das ist sehr gut geschrieben. Erinnert mich ein wenig an Håkan Nesser. 👏🆒
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Sehr gerne! Es liest sich wirklich sehr gut. Tolle Kurzgeschichten mit viel Sinn!
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Das freut mich sehr… Danke!
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Wenn Du das schreibst, wäre vielleicht Wattpad etwas für Dich. Ich bin dort User NOKBEW Grüße
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