Ulla steht im Wind, und der Wind, er zerrt an ihren Haaren, er zerrt an ihren Kleidern, er zerrt an ihrer Nase, vor allem an ihrer Nase, und manchmal gerät sie ein wenig ins Wanken, fällt beinahe um. Einst trat ein Mann zu ihr heran und sagte, ihre Nase sei so groß, geradezu riesig, die Nase würde alles in den Schatten stellen. Dann ging er weiter, der Mann, immer seiner vollkommen durchschnittlichen Nase nach, verschwand aus ihrem Blickfeld, und Ulla stand da, mit ihrer offenbar gigantischen Nase, und wusste nicht, ob sie sich hässlich oder außergewöhnlich fühlen sollte. Sie entschied sich für außergewöhnlich. Hatte sie zuvor kaum eine besondere Qualität an sich selbst entdeckt, dank welcher sich ihr Streben nach Individualität erfüllte, war da nun plötzlich diese große Nase, an der sie sich festhalten konnte, sehr gut festhalten konnte. Fortan betrachtete sie die übrigen Frauen und Männer sowie deren normale Nasen mit einer Mischung aus Stolz und Mitleid, sie war froh, dass ihre eigene Nase ihren Charakter in unvergleichlicher Weise zu betonen vermochte. Ihre Nase war ein Teil ihrer Identität geworden, sie war nicht nur Ulla, sie war die Ulla mit der Nase, und das war gut so. Wenn sie jemandem begegnete, dessen Nase sich ebenfalls durch enorme Ausmaße von der Masse abhob, verspürte sie eine angenehme Verbundenheit, eine Zugehörigkeit, ohne dass sie den Drang verspürte, mit diesen Menschen ins Gespräch zu kommen oder anderweitig in Kontakt zu treten. Irgendwann kam es aber dennoch zu einer Unterhaltung mit einer Frau, die ebenfalls eine große Nase hatte, ein besonders beeindruckendes Exemplar, leicht gekrümmt und gebeugt, aber ausnehmend schön und imposant. Die Frau berichtete von Erlebnissen, die sie ihrer großen Nase zu verdanken hatte, doch als Ulla ihrerseits zu erzählen begann, schlich sich rasch ein gewisses Unverständnis auf das Gesicht der Frau, und nach einigen Sekunden unterbrach sie die Frau und sagte, dass Ullas Nase gar nicht groß sei. Dochdoch, meine Nase ist groß, entgegnete Ulla mit gespielter Entrüstung, denn sie glaubte, dass die Frau sich einen Scherz erlaubte. Doch die Frau scherzte nicht, sondern beteuerte völlig spaßbefreit und ernsthaft, dass Ullas Nase eine ganz normale Nase sei, absoluter Durchschnitt, nichts Besonderes. Ulla spürte, wie ihr Unterkiefer nach unten sackte, und sie zog ihn mit aller Kraft wieder nach oben. Dann ging sie weiter, die Frau, immer ihrer gigantischen Nase nach, verschwand aus ihrem Blickfeld, und jetzt steht Ulla da, steht im Wind, mit ihrer offenbar vollkommen durchschnittlichen Nase, und weiß nicht, wie sie sich fühlen soll. Der Wind, er zerrt an ihren Haaren, er zerrt an ihren Kleidern, er zerrt an ihrer Nase, vor allem an ihrer Nase, und Ulla fragt sich, ob es vielleicht etwas nützt, wenn der Wind stark genug an ihrer Nase zerrt.

Vielleicht hätte ich als Jugendliche auf meine Ohren lieber stolz sein statt sie vom Arzt anlegen zu lassen.
ABer ich glaube, das wäre mir sehr schwer gefallen.
Ich musste sofort an an das Video mit Anke Engelke und ihrer außergewöhnlichen Nase denken, die war ja auch stolz darauf.
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Vielleicht ist es grundsätzlich eh ratsam, seinen Selbstwert nicht an äusserlichen Dingen zu messen… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Oh je, arme Ulla!
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Wer weiss, vielleicht ist die Erkenntnis auch gar nicht so schlimm… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen!
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Ich finde es immer äußerst interessant wie du den Anfang wieder ans Ende mit einbaust, Disputnik.
LG, Nati
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Vielen lieben Dank dir! Und herzliche Grüsse zurück!
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