Ich hasse dich, ruft sie, oder nein, sie schreit es, sie brüllt, und man könnte glauben, sie meine es erst, doch Egon glaubt das nicht, er bezweifelt, dass sie es ernst meint, aber allein schon die Möglichkeit, dass es so sein könnte, macht ihm ein wenig Angst. Außerdem sieht ihr Gesicht schrecklich aus, fürchterlich, furchteinflößend. Die Gesichtszüge sind vollkommen aus den Fugen geraten, die Haut schlägt Wellen und tiefe Furchen, die Augen sind ungewohnt schmal, und Egon erinnert sich daran, wie wunderschön sie am Tag ihrer Hochzeit aussah, aus allen Poren schien ein unbändiges Strahlen zu dringen, das die Welt erleuchtete, zumindest seine Welt, sie war hell und warm, die Welt, und manchmal, wenn er das Hochzeitsfoto an der Wand im Flur betrachtet, fragt er sich, warum seine Welt nicht so hatte bleiben können wie an jenem Tag. An anderen Tagen findet er, dass sie noch genau so glücklich sind wie damals. Meistens stehen sie wohl irgendwie dazwischen. Und Egon fühlt sich durchaus wohl zwischen diesen beiden Polen, fühlt sich wohl an ihrer Seite, selbst dann, wenn ihm plötzlich auffällt, dass sie gerade gar nicht neben ihm steht.
Der Name war zu Beginn ein Problem, oder zumindest ein Stolperstein, denn als Egon ihn zum ersten Mal hörte, entwich ihm unweigerlich ein schmutziges Grinsen, was in der Regel kein guter Start in eine Beziehung ist, und er kann die Entscheidung ihrer Eltern noch immer nicht ganz nachvollziehen. Emmanuelle. Warum Emmanuelle? Der Vater heißt Werner, die Mutter Annemarie, ihre Brüder Ernst und Erwin. Emmanuelle kam etwa zu jener Zeit zur Welt, als die gleichnamigen Filmheldin die Leinwände eroberte, und man konnte natürlich argumentieren, dass dies nur ein Zufall war, er mochte Zufälle durchaus sehr gerne, aber an diesen Zufall mochte er dann doch nicht glauben. Dass sie nach der Hauptfigur in Erotikfilmen benannt wurde, irritierte ihn ein wenig, und weil sie darauf beharrt, dass man ihren vollständigen Namen aussprach und ihn nicht durch eine abgekürzte oder verkümmerte Form wie Emma ersetzt, nennt Egon sie praktisch nie beim Namen. Häufig sagt er Schatz. Manchmal sagt er Liebling. Doch jetzt, als sie Ich hasse dich brüllt, heißt sie Emmanuelle.
Während dieses Ich hasse dich den Raum auffüllt, hebt Emmanuelle die gläserne Kerzenschale hoch, die seine Eltern ihnen geschenkt haben; es ist eine schwere, unförmige und klobige Kerzenschale, außergewöhnlich hässlich, aber eben, ein Geschenk seiner Eltern, das muss man ja würdigen, muss man wertschätzen, muss die Kerzenschale zumindest einige Wochen gut sichtbar hinstellen, zumindest bis zum nächsten Besuch seiner Eltern, und nun schleudert Emmanuelle diese Kerzenschale von sich, und als die Kerzenschale in Egons Richtung fliegt, fragt er sich, wie es so weit hatte kommen können. Ganz langsam bewegt sich die Kerzenschale auf ihn zu, und eigentlich sollte Egon sich ducken, um dem ungewohnten Flugkörper auszuweichen, sollte eine kleine Flucht ergreifen. Doch stattdessen ergreift er das Wort.
Ja, Emmanuelle, du hast recht. Natürlich hast du recht, wenn du sagst, dass ich dich nicht sehe. Dass ich alles als selbstverständlich erachte, dass ich bequem bin, dass ich uns vernachlässige. Ja, ich habe den Hochzeitstag vergessen, nun schon zum dritten Mal, aber damals vor vier Jahren habe ich nicht nur daran gedacht, ich habe dir sogar eine Küchenmaschine geschenkt, du weißt schon, jene mit dem Teighaken, die war nicht gerade billig. Ich würde dir ja gern ab und zu Blumen kaufen, aber du hast einmal gesagt, dass du wenig Sinn darin siehst, wenn Blumen einfach abgeschnitten werden und nach wenigen Tagen sterben, darum lasse ich das mit den Blumen, also wirf mir es nicht vor. Ich weiß, es geht nicht um Blumen, es geht auch nicht um den Hochzeitstag. Ich verstehe ja, dass du glaubst, dass du mir egal bist. Aber du bist mir nicht egal, wirklich nicht. Ich liebe dich. Ja! Ich kann es wohl nur nicht so gut zeigen. Verstehst du? Das musst du doch verstehen! Ich bin, wie ich bin. Da kann ich auch nichts daran ändern, ich kann ja nicht aus meiner Haut. Ich habe doch auch gute Seiten, nicht wahr? So schlimm kann ich doch gar nicht sein, oder doch? Dann die Sache mit den Kindern. Ich weiß ja, dass du unbedingt Kinder willst, aber ich bin einfach noch nicht so weit. Ich sage ja nicht, dass ich keine Kinder will, aber ich brauche noch ein wenig Zeit. Das musst du doch akzeptieren können, oder? Und weißt du, Emmanuelle, du machst es mir auch nicht immer leicht! Wenn ich mal weggehen oder allein in die Ferien fahren will, sagst du, es gehe immer nur um mich, doch wenn wir dann diskutieren, geht es nur darum, was dir fehlt oder nicht passt. Ich habe manchmal das Gefühl, dass du einfach grundsätzlich unzufrieden bist. Ich weiß auch nicht. Manchmal weiß ich nicht, was du eigentlich willst, Emmanuelle. Brauchst du Urlaub? Oder mal wieder eine neue Küchenmaschine? Die alte sollte doch eigentlich noch funktionieren, oder? Die ist doch erst vier Jahre alt. Und du brauchst sie ja sowieso kaum. Ach…
Egon sagt noch mehr, während die Kerzenschale in seine Richtung fliegt, doch alles, was er sagt, sagt er nur in seinem Kopf, die Worte haben keine Gelegenheit, den Weg in den Raum zu finden, und könnte er sich selbst von außen betrachten, würde er sein dümmliches Gesicht sehen, den geöffneten Mund, die fragenden Augen, doch er sieht sich nicht von außen, hat es nie gelernt, und erst, als die Kerzenschale an seine Stirn prallt, sieht er ein, dass sein Redeschwall keinen Zweck hatte. Egon brüllt vor Schmerz und hält sich die Hände vors Gesicht. Die Kerzenschale fällt zu Boden, und während er spürt, wie das Blut über seine Finger kriecht, wundert er sich, warum sie nicht zersplittert.
Später sitzen Emmanuelle und Egon am Küchentisch, sie trinkt Tee und er trinkt Bier, sie weint und er fragt, was denn eigentlich los sei. Sie schaut ihn an und öffnet leicht den Mund, bleibt dann aber stumm. Egon überlegt, ob er die unausgesprochenen Sätze von vorhin nun doch noch aussprechen soll, ob er das Wort ergreifen soll. Doch stattdessen ergreift er die Flucht und geht nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen.

Vielleicht hätte ich ihm auch oder doch nicht die Schale an den Kopf geworfen. Beim Autofahren gibt es eine Geste, die strafbar ist – diesen Finger würde ich ihm zeigen!
LikeGefällt 1 Person
Ist ein starker Finger, derjenige… 😉
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte (und für den Finger, irgendwie)…
LikeLike
Liebe Clara, da hättest du mir die Schale auch an den Kopf werfen können. Die unausgesprochene Rede von ihm könnte ich fast auch halten. Mit Ausnahme der Kinder. Da hatte ich gleich Farbe bekannt. Aber dieses schleichende sich nicht mehr wirklich verstehen, das kenne ich auch…
LikeLike
Hallo, nach so langer Zeit, wann der Artikel von Disputnik erschienen ist, musste ich ihn gleich noch mal im Original lesen.
Ich habe den Eindruck gewonnen, dass diese beiden hier sich auch am Tag ihrer Hochzeit nicht richtig verstanden haben. – Wie kann einer mit dem Geschenk einer Küchenmaschine sich so großtun? – Das ist ein Haushaltsgegenstand, kein Geschenk. –
Gut, dass ich inzwischen solchen Problemen entwachsen“ bin, denn ich bin immer ziemlich impulsiv.
LikeLike
Da hast du schon recht, bei der Küchenmaschine aber auch bei dem Kristaltand habe ich die Augen verdreht. Es waren aber die übrigen unausgesprochenen Worte, die mir sehr vertraut vorkamen. Ich lese die Artikel von Disputnik sehr gerne und hatte gesehen, dass mir ein paar durch die Lappen gegangen waren, deshalb der Zeitverzug bei der Kommentierung.
LikeLike
Das gern lesen haben wir auf jeden Fall gemeinsam – er hat wirklich ein Händchen für Texte (Disputnik, lies jetzt weg, das ist nicht für deine Augen geschrieben) – immer kommentiere ich auch nicht, aber ich denke, ich gehöre schon zum festen Kommentarstamm.
Liebe Grüße jetzt zu dir
LikeGefällt 1 Person
Danke liebe Clara, ich grüße dich zurück
LikeLike
Ich freue mich einfach über euer Gespräch hier und geniesse still… Danke!
LikeGefällt 1 Person
Danke
LikeLike
Vielen Dank für Dein nettes Folgen! 👏🆒
LikeGefällt 1 Person
Gleichfalls!
LikeLike