Niemand weiss wirklich, woher sie kamen. Sie waren irgendwann einfach da, wie unbekannte farbenprächtige Vögel, die plötzlich auf einem Baum im Garten hocken, herzerwärmend und einnehmend. Und dann waren sie wieder verschwunden, liessen höchstens einige Federn und vage Erinnerungen zurück.
Man hatte sie wohl schon zuvor gesehen. Aber zum ersten Mal deutlich ins Bewusstsein traten sie bei einem Dorffest. Es war einer jener Anlässe, bei welchen stets die Mutmassung mitschwang, dass sie eigentlich viel unterhaltsamer, fröhlicher und ausgelassener sein könnten, sein müssten, als sie tatsächlich waren. Es wurde getrunken, es wurde geschwatzt, es wurde gelacht, die Musik war schlecht und zu laut, und trotz des unbestreitbaren Trubels und Getümmels war das Fest seltsam träge und fad. Dann tauchten sie auf. Sie waren beide äusserst elegant gekleidet, ohne übereifrig oder gekünstelt zu wirken. Zwar hatten sich die meisten Leute bemüht, sich einigermassen gut zu kleiden, doch im Vergleich zu ihnen beiden wurde eine klare Kluft deutlich, Wie sie nebeneinanderstanden, sahen sie aus wie Filmstars, wie Katharine Hepburn und Spencer Tracy. Man ertappte sich dabei, wie man sie anstarrte, mit heruntergeklapptem Unterkiefer, gerade so, als wären sie eine Sensation. Jemand flüsterte ihren Namen. Schau, die Kramers. Sie sahen glorreich aus, die Kramers. Während sich die Band durch eine Version von Hit The Road Jack quälte, stellten sich die Kramers vor die Bühne und begannen zu tanzen. Ihre Blicke schienen ineinander verwoben zu sein, ihr Augenkontakt brach keine Sekunde lang ab. Jede Bewegung wirkte vollkommen natürlich und logisch, es war kein Tanz, es war das bewegte Leben. Und dieses Leben, es strömte nun auch immer mehr durch das Fest, tränkte es in eine ungeahnte Euphorie. Es schien, als ob die Kramers einen unbekannten Zauber mit sich brachten, dem sich niemand zu entziehen vermochte.
Später kam man mit ihnen ins Gespräch, man stellte sich vor. Ihr Name war Ella, er hiess Michael, und beide waren so charmant und liebenswert, dass man sich unvermittelt wohl und behaglich fühlte im Zusammensein mit ihnen. Sie erzählten von Erlebnissen, die eigentlich vollkommen banal waren, in ihren Worten aber zu Begebenheiten voller Tragweite und Bedeutung heranreiften. Wenn man selbst sprach, hörten sie aufmerksam zu und liessen nie den Verdacht aufkommen, dass ihnen eine andere Gesellschaft lieber wäre. Als man sich von ihnen verabschiedete und sagte, dass man sich über ein Wiedersehen freuen würde, war dies nicht gelogen. Es war sogar ziemlich zurückhaltend formuliert.
Man sah die Kramers fortan häufiger, und jedes Mal war man bezaubert von ihrer Ausstrahlung, die um sich griff und jeden vorbehaltlos erfasst. Man dachte an den Film Kramer vs. Kramer mit Meryl Streep und Dustin Hoffman und daran, wie gross der Unterschied zwischen den beiden gleichnamigen Paaren schien. Im Dorf hatte bald jede und jeder Einzelne im Dorf eine Geschichte über die Kramers zu erzählen, berichtete von einem tiefschürfenden Gespräch, von unterhaltsamen Anekdoten oder einer bereichernden Begegnung. Die unterschwellige Aversion gegenüber Leuten, die über gewisse Reize, Vorzüge oder Reichtümer verfügte, die man selbst nicht besass, sie kam in Bezug auf die Kramers nicht zum Ausdruck. Sie schienen immun gegen Neid und Missgunst, niemand sprach ein böses oder niederträchtiges Wort gegen sie. Man war wohl einfach froh und dankbar, sie im Dorf zu wissen, obwohl man nicht genau wusste, warum es so war.
Und dann waren die Kramers plötzlich verschwunden. Man erkannte es nur schleichend. Jemand erzählte wieder einmal eine Geschichte über die Kramers, und man stellte fest, dass man sie schon längere Zeit nicht gesehen hatte. Man erkundigte sich nach ihnen, doch niemand schien Genaueres zu wissen. Erstaunlicherweise konnte niemand sagen, wo die Kramers wohnten oder arbeiteten, niemand hatte eine Telefonnummer von ihnen. Beinahe schien es, als wären sie Phantome, keine greifbaren Wesen. Man dachte zurück an vergangene Begegnungen mit ihnen und sah sich mit überraschend diffusen Bildern konfrontiert, die Konturen zerflossen immer mehr, die Farben bleichten aus. Trotzdem blieben die Kramers unweigerlich in Erinnerung. Sie hatten einen Raum gefüllt, von dem man zuvor nicht wusste, dass er überhaupt existierte, und jetzt, wo sie verschwunden waren, war diese unerträgliche Lücke entstanden.
Hin und wieder blickte man aus dem Fenster, suchend und sehnend, wonach auch immer. Eines Tages sah man draussen im Garten einige bunte Federn unter dem Baum auf dem Boden liegen. Man ging hinaus, um die Federn einzusammeln, bewegte sich vorsichtig über den Rasen und näherte sich dem Baum, doch als man ihn erreichte, waren die Federn weg. Und blieben unauffindbar.

Vielleicht sieht so die Sehnsucht aus?
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Kann gut sein, dass dies eine der vielen Formen der Sehnsucht ist, ja…
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni!
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Eine sehr schöne Geschichte
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Vielen lieben Dank dir!
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Gerne
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