Wie er so da sitzt, auf der dunkelgrünen Parkbank, sieht er aus wie ein Denkmal, zumindest glaubt er, dass er so aussieht, und vielleicht glaubt er, dass er wie ein Denkmal aussieht, weil er sich wie ein Denkmal fühlt.
Er kommt fast jeden Tag hierher, sofern das Wetter und sein alter Körper es erlauben. Er setzt sich immer auf die gleiche Bank, und wenn diese Bank bereits besetzt ist, gerät er ein wenig aus der Fassung. Die Tage, an denen schon jemand auf seiner Bank sitzt, sind keine guten Tage. Er mag den ganzen Park, es hat dort viele hübsche Plätze, doch von seiner Bank aus hat man den besten Ausblick. Man sieht die kleine Baumgruppe, deren Blätter im Herbst so schön gelb und rot leuchten, man sieht den Teich und manchmal die Enten, und vor allem sieht man den Spielplatz.
Im Laufe seines langen Lebens hat er viel von der Welt gesehen, er war in Guatemala und Laos und Island, doch wenn man ihn nach seinem liebsten Ort fragen würde, dann wäre seine Antwort der Spielplatz, der nur wenige Meter von seiner Wohnung entfernt im Park liegt. Hier fühlt er sich sicher, hier fühlt er sich lebendig, vielleicht sogar glücklich, was auch immer das bedeuten mag.
Natürlich kommt er wegen den Kindern. Die Spielgeräte sind ihm egal, die Wiese ist nichts Besonderes. Aber schon ein einziges Kind vermag den Ort zu verwandeln, in ein unvergleichliches Reich der Fantasie. Geräusche mischen sich in die Luft, helle Stimmen, spitze Schreie, bisweilen auch ein unbeschwertes Summen. Selbst kürzeste Wege werden gerannt, jedes bestiegene Klettergerüst ist ein Triumph, jedes Lachen und jedes Weinen klingt nach Wahrheit.
Während er auf seiner Parkbank sitzt und die Kinder beobachtet, vergisst er manchmal das Bedauern, selbst keine Kinder gehabt zu haben. Er wäre gerne Vater geworden, später dann Großvater, aber Elisabeth wurde krank und starb, viel zu früh, und mit einer anderen Frau hätte er sich das Elterndasein nicht vorstellen können. Die Momente im Park, sie sind ein später Trost, unter anderem.
Nicht alle Kinder sind in gleichem Masse großartig, findet er. Bei manchen Kindern erkennt man sofort, dass sie verwöhnt werden, bei anderen wiederum wird deutlich, dass sie den Eltern eher Last denn Freude sind. Es betrübt ihn, diese Kinder zu sehen und daran zu denken, was ihnen entgeht, was ihnen verwehrt bleibt. Umso mehr freut es ihn, wenn er Kinder sieht, die spürbar glücklich sind und geliebt werden. Sein Lieblingskind ist ein kleines Mädchen. Von den Rufen der Mutter weiß er, dass es Mia heißt. Mia hat dunkle Haare und riesige Augen, so groß, dass die ganze Welt darin Platz findet. Mia wirkt einerseits frech und vorwitzig, andererseits aber auch liebenswert und freundlich. Wenn er sich vorstellt, wie es wäre, wieder jung zu sein und ein eigenes Kind zu haben, sieht diese Kind aus wie Mia. Er würde mit Mia schaukeln, würde sie in die Luft werfen und wieder auffangen, und manchmal würde er mit ihr auf dem großen Stein am Rand des Spielplatzes sitzen und ihr zuhören, wie sie ihm die Welt erklärt.
Als Mia an jenem Tag mit ihrer Mutter nach Hause gegangen ist, sitzt er weiterhin auf seiner Parkbank, lässt sich von der Sonne wärmen und beobachtet die Kinder auf dem Spielplatz. Er verspürt ein leises Behagen, die ihn lächeln lässt. Er wäre ein freundliches Denkmal, ein zufriedenes Denkmal, zumindest heute, denkt er. Plötzlich sitzt er im Schatten, vor ihm steht ein Mann, groß und muskulös, eine Zigarette zwischen den dicken Fingern. Er findet es nicht gut, wenn auf Spielplätzen geraucht wird, doch er sagt nichts. Der fremde Mann fragt ihn, was er hier mache. Ich sitze nur hier, gibt er leise zurück und zuckt mit den Schultern. Der Mann schnippt seine Zigarette ins Gras und bläst ihm den Rauch ins Gesicht. Ich habe dich beobachtet, knurrt der Mann. Ich weiß genau, was du hier machst. Du bist… Du pädophile Sau. Verdammter Kinderschänder! Du perverses Arschloch. Verpiss dich! Na los! Hau ab!
Er weiß, dass eine Diskussion nichts bringen würde, also steht er auf und will gehen. In diesem Moment schlägt ihm der Mann seine Faust ins Gesicht. Er fällt hin, und als er auf dem Boden liegt, betrachtet er die grünen Blätter und die Grashalme vor seinen Augen. Wie kleine Speere ragen sie empor, gerade so, als wollten sie die Erde beschützen. Hinter den Grashalmen sieht er die Umrisse der Kinder auf dem Spielplatz. Er denkt an Mia, an ihre großen Augen, und stellt sich vor, wie sie in diesem Moment an der Hand ihrer Mutter nach Hause geht. Mia erklärt ihrer Mutter die Welt, und die Mutter lauscht und lächelt, doch er kann nicht hören, was sie sagt, er kann nicht hören, wie Mia die Welt erklärt, und das macht ihn traurig.
Nach einer weiteren wütenden Tirade entfernt sich der fremde Mann wieder, und er steht vorsichtig auf. Er betrachtet die grüne Parkbank, möchte sich setzen, um sich ein wenig auszuruhen, doch er wagt es nicht, noch länger hierzubleiben. Mit gesenktem Kopf geht er über die Wiese zum Ausgang des Parks. Am Tor bleibt er stehen und sieht sich um, blickt zurück. Ein kleiner Junge hat sich auf seinen Platz gesetzt, ganz allein. Wie er so da sitzt, auf der dunkelgrünen Parkbank, sieht er aus wie ein Denkmal.

Es ist sicher gut, wenn jemand aufmerksam ist – doch das sollte besonders im Haus und ihm Kindergarten passieren, weil dort Sachen am ehesten bemerkt werden können, wenn sie schief laufen.
Aber einen alten Mann sofort zusammenzuschlagen, das geht weit über Aufmerksamkeit hinaus. Aber so wird unsere Welt immer mehr: brutal und nicht hinterfragend.
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Aufmerksamkeit ist wichtig, unbedingt, ja, hinschauen, hinterfragen. Aber eben doch auch so, dass die eigene Voreingenommenheit nicht weit vorausgaloppiert…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse!
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