Es existieren mehr Möglichkeiten als Tatsachen, da ist mehr Fantasie als Realität, und die Welt, die sein könnte, ist ungleich bunter und reicher als die Welt, die ist. Luisa weiß nicht immer, wo die Grenzen liegen. Aber vielleicht ist es auch nicht wichtig, sie mit Bestimmtheit zu ziehen.
Manchmal legt sie sich auf den Boden, schließt die Augen und stellt sich tot, wie ein bedrohtes Tier, ein Opossum vielleicht. Sie ist nicht bedroht, sie hat keine Sehnsucht nach dem Tod, aber sie mag es, sich vorzustellen, was geschehen würde. Luisa fragt sich, wer sie finden würde. Wahrscheinlich ihre Eltern, vielleicht auch Ruben, ihr Ex-Freund, der ebenfalls einen Schlüssel zur Wohnung hat, obwohl er behauptet, ihn nicht mehr finden zu können. Ruben wäre ihr lieber. Der Gedanke, ihre Mutter könnte ihren leblosen Körper entdecken, löst Unbehagen in Luisa aus. Ihr Vater könnte wohl besser damit umgehen, doch auch ihm will sie es nicht zumuten müssen, und womöglich irrt sie sich, vielleicht würde es ihn noch viel tiefer verstören als ihre Mutter. Ruben hingegen würde dem Ereignis wohl mit der gleichen stoischen Distanziertheit begegnen wie allen anderen Begebenheiten in seinem Dasein. Vielleicht wäre es auch einem Polizeibeamten überlassen, sie zu entdecken. Er würde mit schweren Schuhen in die Wohnung kommen, würde sich neugierig umsehen, würde vielleicht ihren Namen rufen. Dann würde er sie erblicken, auf dem Boden liegend, womöglich nackt oder nur spärlich gekleidet. Er würde sie betrachten, wie ein lebloses Objekt, was sie in seinen Augen wohl auch wäre. Er würde die Einsatzzentrale kontaktieren und dann einige Spuren sichern, vielleicht Fotos machen. Irgendwann würde er sie nochmals ansehen, ihren nackten Körper anstarren und sich vielleicht einen Moment lang vorstellen, wie es gewesen wäre, mit ihr zu schlafen, als sie noch lebte, doch vermutlich würde er sich umgehend besinnen, würde die Situation wieder als Polizeibeamter mit der nötigen professionellen Perspektive betrachten. Das Auffinden ihres toten Körpers wäre dann lediglich ein Teil der Arbeitsalltags eines fremden Mannes, denkt Luisa, und diese Erkenntnis stimmt sie seltsam traurig.
Während sie sich totstellt, fragt sich Luisa auch, wer wohl zu ihrer Beerdigung kommen würde. Ob jemand ein paar Worte zur Trauergemeinde sprechen würde. Ob Musik gespielt werden würde. Sie stellt sich vor, wie sich ihre Freundinnen und Freunde umarmen und sich leise unterhalten. Einige würden Dinge sagen, die zuvor unter einem dicken Mantel des Schweigens verborgen geblieben wären, andere wiederum würden Erinnerungen ausgraben. Ruben würde kein Wort reden, vielleicht wäre er auch gar nicht da. Luisa hofft, dass die beiden Annas nebeneinander stehen würden. Jemand würde womöglich erwähnen, welch großer Zufall es sei, dass die zwei besten Freundinnen den gleichen Namen trugen. Dann würde kurz gelächelt werden können, bevor die Gesichter wieder grau und ernst werden würden.
Beim Totstellen lässt sie ihre Gedanken bisweilen in die zerronnene Zeit entgleiten, taucht in das endlose Meer der Vergangenheit ein. Bisweilen versucht sie, sich an jene Ereignisse zu erinnern, die doch eigentlich so wichtig und prägend gewesen sein sollten, doch nichts wird greifbar, da sind keine Bilder, an denen sie sich festhalten könnte. Stattdessen erscheinen vollkommen banale Nichtigkeiten, drängen sich auf und schieben sich in den Vordergrund. Begegnungen mit Menschen, deren Namen sie vergessen hat. Ein Besuch in einem historischen Museum. Ein Spielplatz bei einer Autobahnraststätte. Ein zugefrorener Bach im Winter. Die Bilder schweben an ihr vorbei, und sie lässt sich treiben, bleibt nur manchmal an kleinen Widerhaken hängen, bevor sie die Strömung wieder weiterschiebt.
Am Ende liegt sie wieder auf dem Boden, ein Opossum, noch immer scheinbar tot. Schließlich schlägt sie die Augen auf und fragt sich, wie es wäre, in einer anderen Welt zu erwachen. Diese Welt, die sein könnte, ist ungleich bunter und reicher als die Welt, die ist. Luisa weiß nicht immer, wo die Grenzen liegen. Aber vielleicht ist es auch nicht wichtig, sie mit Bestimmtheit zu ziehen.

Tot stellen wie ein Opossum oder steif machen wie ein Blumenkohl- nützt alles garnix. Habe es ausprobiert. Bin allerdings immer noch da. Das einzig Wahre: Hände vor die Augen legen – macht garantiert
unsichtbar.
Feine Geschichte und die Vorstellung meine Lieben wegen mir traurig zu sehen: gruselig.
Doch so ein Gehirn hat Sicherungen und wer sich selbst mit dem eigenen Tod droht, knallt schneller durch.
Liebe Grüße ✨🧚♀️
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Der Trick mit den Händen vor den Augen ist gut, hat mich schon aus manchen unschönen Situationen gerettet…
Dann lass uns hoffen, dass uns die Sicherungen noch möglichst lange Zeit nicht durchbrennen.
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse zurück!
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Genauso ist es, lieber Disputnik, wie du schon länger weißt, ist dieser Grenzbereich zwischen Realität und Fantasie mein Lieblingsort.
Und in der Tat habe ich schon oft, am Boden liegend, mir genau das vorgestellt und verschiedene Folgeszenarien durchgedacht. Auch die Grabgeschichte natürlich …
Fein erzählt, wie immer.
Liebe Grüße vom Finbar
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Oh ja, ich weiss, du fühlst dich wohl dort im Grenzgebiet 😉 Geht mir ja auch so.
Dieses Vorstellen, was denn wäre, wenn man selbst nicht mehr wäre, das hat schon einen gewissen Reiz, ja.
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar, und herzliche Grüsse zurück!
(Und nur teilweise passend, mir aber trotzdem grad eingefallen: Zu guter Letzt von Erich Fried > https://www.deutschelyrik.de/index.php/zu-guter-letzt-1983.html)
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Wunderschön, der Fried ☀️
Herzlichen Dank dafür!
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