Als Ann das Ministerium übernahm, tat sie es nur mit halbem Herzen. Das waren 150 Gramm Fleisch, wo es doch eigentlich 300 Gramm hätten sein müssen. Normale Frauenherzen wiegen nur etwa 250 Gramm, aber Ann hatte ein großes Herz, das war schon immer so, und große Herzen sind entsprechend schwer. Große Herzen sind nicht immer von Vorteil, und wenn sie brechen, sind sie bisweilen schwierig zu reparieren.
Man hatte Ann das Amt angeboten. Es sei nun Zeit für eine Frau auf diesem Posten, und Ann sei die Richtige. Als sie nachfragte, ob sie die richtige Frau oder die richtige Person sei, tat man so, als wisse man nicht, was sie meinte, man grinste aufmunternd, doch Ann fand es nicht lustig. Ann wollte kein Amt, obwohl sie eine Frau war. Ann wollte auch kein Amt, weil sie eine Frau war. Aber eben, eigentlich wusste Ann gar nicht, ob sie das Amt überhaupt und wirklich wollte. Sie übernahm es dennoch. Man müsse Gelegenheiten beim Schopfe packen, hatte ihr Großvater stets gesagt. Ihr Großvater hatte für jede Situation eine Weisheit auf Lager, manchmal kam es Ann so vor, als wären sämtliche Worte, die ihr Großvater sprach, nur aneinandergereihte Weisheiten, gerade so, als ob er den Redenwendungen-Duden vorlesen würde. Das Ministerium war durchaus eine jener Gelegenheiten, die beim Schopfe gepackt gehörten, es war eine spannende Herausforderung. Doch als man Ann fragte, ob damit für sie ein Traum in Erfüllung gehe, vermochte sie ihren Kopf nicht am Schütteln zu hindern. Sie lächelte entschuldigend und murmelte ein paar banale Worte, sagte dann aber nichts mehr dazu. Nein, ihr Traum war das nicht, dachte sie. Ihr Traum war ein anderer.
Schon als kleines Mädchen wollte Ann Sängerin werden. Natürlich hatte sie damals wohl eine verzerrte Vorstellung des Sängerinnendaseins, hatte keine Ahnung von Zeit und Arbeit, die dafür nötig waren. Doch die Leidenschaft für die Musik blieb auch beim Erwachsenwerden ungebrochen, und Ann schrieb Lieder, spielte Gitarre, sang in ihrer kleinen Wohnung für ihre Zimmerpflanzen und hatte sogar einige Auftritte in regionalen Bars und Lokalen. Irgendwann begann sie, ihre Songs auf YouTube hochzuladen, und freute sich über jeden Menschen, der ihren intimen Wohnzimmerkonzerten ein wenig Aufmerksamkeit schenkte. In jedem Lied, das sie sang, und in jeder Melodie, die sie spielte, steckten 300 Gramm Fleisch.
Nachdem sie den Vertrag mit dem Ministerium unterzeichnet hatte, sagte man ihr, dass es ratsam sei, die Songs auf YouTube zu löschen. Das Ministerium sei eine seriöse Angelegenheit, und gerade sie als Ministerin sollte sich nicht in dieser Weise zeigen. Als sie nachfragte, ob es daran liege, dass sie eine Frau sei, oder daran, dass sie das Ministerium bekleide, tat man so, als wisse man nicht, was sie meinte, man grinste aufmunternd, doch Ann fand es nicht lustig. Vor allem mochte sie die Songs, die zumindest im Internet eine Bühne gefunden hatte, nicht sterben lassen.
Ann mochte ihren Namen durchaus, doch wie wurde den Eindruck nicht los, dass ihre Eltern bei der Namensfindung frühzeitig abgebrochen hatten. Sie hätten sie Anna nennen können, oder Anne, oder Annina, oder Annemarie, oder Annalisa. Doch sie gaben ihr diesen Namen, der nicht ganz fertig schien. Und bisweilen fragte sich Ann, ob dies ein Muster war, das sich durch ihr Leben zog; angefangene Dinge, die zu früh ein Ende fanden. Als man ihr empfahl, ihre Musik aufzugeben, kündigte sich dieses Muster offenbar ein weiteres Mal an.
Sie war grundsätzlich eine pragmatische Person, doch jene Stimme, die behaupteten, dass sich Ministerium und Musik nicht vereinbaren ließen, lösten eine ungewohnte Unsicherheit und Wankelmütigkeit in Ann aus. Also tat sie, was sie schon immer getan hatte, wenn ihr das Leben kleine oder große Steine in den Weg legte. Sie schrieb ein Lied darüber. Den Song lud sie trotz mahnenden Fingern und Ratschlägertypen auf YouTube hoch, und schon bald darauf ging die Besucherzahl steil nach oben. Immer mehr Menschen hörten sich das Stück an, schrieben Kommentare, teilten es und redeten darüber. Für viele Frauen war Ann eine Heldin, doch auch Männer mochten diese Ministerin, die nicht ganz in ihr Bild einer Politikerin passen wollte. Die Medien, die bisher nur über ihre Rolle als Ministerin berichtet hatten, freuten sich ebenfalls über die neue Facette von Ann, die sie thematisieren konnten. Zwar gab auch hier einzelne Leute, die kundtaten, dass sich Politik und Gitarrenlieder nicht unter einen Hut bringen ließen. Aber diese Leute kauften wohl einfach die falschen Hüte.
An der nächsten großen Versammlung im Ministerium stand Ann vorne an einem Podium und sprach über ihre Rolle als Ministerin. Sie erzählte, wie man ihr zu Beginn gesagt habe, dass sie die Richtige für diesen Posten sei, und dass sie nachgefragt habe, ob sie die richtige Frau oder die richtige Person sei. Mittlerweile habe sie für sich selbst eine Antwort gefunden. Und sie hoffe sehr, dass es für die übrigen Vertreter des Ministeriums und die gesamte Bevölkerung die richtige Antwort sei. Zum Abschluss erwähnte sie 300 Gramm Fleisch, doch niemand wusste wirklich, was sie damit meinte.

Der hier:
„Aber diese Leute kauften wohl einfach die falschen Hüte.“
Das ist ein wichtiger Satz. Danke dafür.
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Vielen lieben Dank dir! Fürs Lesen (dieses einen und jedes anderen Satzes) und für deinen Worte! Und liebe Grüsse….
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Eine solche Ministerin wünsche ich mir, eine, die nicht löscht, was ihr wichtig ist, die sich zu dem äußert, was sie nie vergessen möchte, die zu sich und ihrer eigenen Person steht, sich nicht verbiegen läßt und weiterhin die Wahrzeit über die Menschen kennt!
Eine tolle Geschichte, lieber Disputnik- Sie gefällt mir sehr.
Liebe Grüße von Bruni
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Das Zu-sich-stehen-Können wäre auch bei Nicht-Ministerinnen und -Ministern eine willkommene Qualität, denke ich…
Dass dir die Geschichte gefällt, gefällt mir und freut mich sehr, liebe Bruni. Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und liebe Grüsse zurück
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